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Sollten wir Europa wieder wild machen?
Rewilding ist ein verhältnismäßig neuer Ansatz für den Naturschutz. „Beim Rewilding werden Ökosysteme wiederhergestellt, die zuvor durch menschliche Eingriffe verändert wurden, und zwar unter Verwendung der Pflanzen- und Tierwelt, die vorhanden gewesen wäre, wenn die Eingriffe nicht stattgefunden hätten“, erklärt die Weltnaturschutzunion IUCN. Langfristig soll die Natur dann sich selbst überlassen werden, sodass sie fern von menschlichen Eingriffen zu alter Stärke zurückkehren kann. Aber geht das wirklich so einfach?
Kerngebiete, Wildtierkorridore und Schlüsselarten
Damit das Rewilding-Rezept gelingen kann, braucht es nach Ansicht von Naturschützern drei Zutaten: Kerngebiete, Wildtierkorridore und Schlüsselarten. Als Kerngebiete bezeichnet man möglichst große, geschützte Flächen, auf denen Rewilding-Maßnahmen Früchte tragen können – zum Beispiel Nationalparks oder Naturschutzgebiete. In einem zweiten Schritt werden mehrere Kerngebiete über Wildtierkorridore miteinander verbunden. Das kann im kleinen Maßstab auch schon eine Grünbrücke über einer Autobahn sein, die eine Verbindung zwischen zwei Waldgebieten schafft.
Zu guter Letzt müssen in den Kerngebieten und Wildtierkorridoren dann jene menschlichen Eingriffe rückgängig gemacht werden, die die Natur überhaupt erst aus dem Gleichgewicht gebracht haben. Rewilding-Teams wiedervernässen zum Beispiel trockengelegte Moore, renaturieren Flussufer und siedeln Schlüsselarten wieder an, die teilweise schon seit Jahrhunderten aus einem Gebiet verschwunden sind. Besonders wichtig sind große Raubtiere wie Wölfe, Bären und Luchse. Nur mit ihrer Hilfe kann sich die Natur wieder komplett selbst regulieren und ohne menschliche Hilfe klarkommen.
Aber auch große Pflanzenfresser sind elementar für europäische Ökosysteme. Ein Paradebeispiel für ein Comeback dieser Art ist der Wisent oder Europäische Bison, der in den 1920er Jahren endgültig in der Wildnis ausgerottet wurde. Die Art überlebte nur dank 54 Tieren in verschiedenen Zoos. Doch mittlerweile streifen aufgrund von Rewilding-Bemühungen wieder 7.000 Wisente durch Europa und schaffen charakteristische offene Landschaften.
Die Sache mit dem Platz
Klingt schön und gut, aber haben wir hier in Europa überhaupt den Platz für große Naturschutzgebiete und schwergewichtige Wisente? Schließlich ist die nächste Straße oder Bahnlinie in Europa im Schnitt nie weiter als zehn Kilometer entfernt, wie eine Studie aus dem Jahr 2020 ergeben hat. Außerdem bedecken landwirtschaftliche Flächen ein Viertel der Europäischen Union und trennen Lebensräume voneinander.
Doch in der Theorie soll es in Europa tatsächlich genug Platz für Großwild wie Wisente und sogar Elche geben, wie Wissenschaftler kürzlich errechnet haben. Sie schätzen in Deutschland zum Beispiel die Uckermark, die Mecklenburgische Seenplatte sowie den Harz, Spessart und Pfälzerwald als geeigneten Lebensraum für die beiden Tierarten ein. In Zukunft könnte der verfügbare Platz sogar noch wachsen, denn europaweit werden immer mehr Acker- und Weideflächen aufgegeben, die in der Folge brach liegen und theoretisch im Zuge des Rewildings wieder der Natur zurückgegeben werden könnten.
Widerstand in der Bevölkerung
Doch selbst wenn wir genug Platz für mehr Wildnis haben, bleibt die Frage, ob wir diese in Europa überhaupt wollen. Nicht umsonst sorgt die Rückkehr der Wölfe nach Deutschland seit Jahren für erbitterte Debatten. Während manche den Tieren eine Chance geben wollen, finden andere, dass Raubtiere wie Wölfe und Bären einfach nicht mehr hierhergehören. Zu lange waren sie verschwunden und in der Zwischenzeit haben wir verlernt, mit ihnen zu leben.
Diese Mentalität zeigt auch ein Vorfall aus dem Jahr 2017, als der erste wild lebende Wisent seit rund 250 Jahren von Polen aus deutschen Boden betrat und auf der Stelle erschossen wurde. Der Leiter des ansässigen Ordnungsamtes hatte in dem Tier eine Bedrohung für die Stadt gesehen und deshalb den Abschuss angeordnet. Und auch Wölfe werden hierzulande immer wieder illegal abgeschossen.
Ein Kompromiss für den Naturschutz?
Der Stiftung Rewilding Europe, die insgesamt zehn Rewilding-Projekte in ganz Europa betreut, sind solche Vorfälle nur allzu bekannt. Auch in anderen Gegenden, zum Beispiel dem kroatischen Velebit, stoßen zurückgekehrte Wildtiere immer wieder auf Abneigung und werden in der Folge erschossen. Die Stiftung versucht daher, einen Weg im Naturschutz einzuschlagen, auf dem sie auch die Bevölkerung mitnehmen kann.
So sucht Rewilding Europe unter anderem nach Möglichkeiten, wie die Einheimischen sogar finanziell von einem Mehr an Wildnis vor ihrer Haustür profitieren könnten. Zum Beispiel indem die Stiftung Öko-Unternehmen fördert oder eine eigene Rewilding-Reiseagentur betreibt, die Tripps in die neu entstandene, ursprüngliche Natur anbietet. Doch ob Europa als Ganzes bereit für mehr Wildnis ist oder ob dieser Zug längst abgefahren ist, muss sich erst noch zeigen.