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Balzacs Menschliche Komödie: Eine monumentale Sittengeschichte

Welches ehrgeizige Projekt hatte Balzac im Sinn?

Honoré de Balzac (1799–1850) hatte nichts Geringeres im Sinn, als eine umfassende Sittengeschichte der französischen Gesellschaft der ersten Jahrhunderthälfte in Form von 137 Romanen in drei Abteilungen (»Études de meurs«, »Études philosophiques«, »Études analytiques«) zu schreiben. Die erste beispielsweise gliederte sich weiter in Rubriken wie »Privatleben«, »Provinzdasein« oder »Leben in Paris«. Zwar konnte Balzac nur 91 Romane vollenden, doch sollte die »Comédie humaine«, wie er einmal an eine Freundin schrieb, tatsächlich eine Dimension in die Literatur bringen wie seinerzeit die großen Kathedralen in die Architektur. Die Anspielung auf Dantes »Göttliche Komödie« im Titel unterstreicht diesen hohen Anspruch.

Wie ist das Mammutwerk angelegt?

Von 1842 bis 1848 erschienen 19 Bände mit einer ganzen Fülle von Meisterwerken, darunter »César Birotteau«, »Eugénie Grandet«, »Vater Goriot«, »Verlorene Illusionen« und »Die Frau von dreißig Jahren«. Der Schauplatz wechselt zwischen Paris und der französischen Provinz, die historische Spanne reicht vom Empire bis zur Julirevolution. Zeit und Milieu treten immer klar in Erscheinung, mit der Welt des wohlhabenden Pariser Bürgertums im Mittelpunkt. Die ungemein facettenreiche Darstellung glänzt durch farbige Zeichnung der Charaktere und den oft dramatischen Gang der Handlung. Ihre Dynamik ist im Wesentlichen von Liebe und Geld bestimmt. Zur entscheidenden Triebfeder gerät immer wieder die – ambivalent bewertete – Leidenschaft: Unvermittelt stürzt sie den Menschen in den Abgrund oder verwandelt ihn in ein unberechenbares Monster.

War Balzac ein kühler Realist?

Nein, dass der Realist Balzac durchaus noch der Romantik verhaftet war, demonstriert sein Verfahren, genaue Beschreibung mit fantastischen Elementen zu verbinden, etwa dem Teufelspakt-Motiv in »Das Chagrinleder«. Eine literaturgeschichtliche Pioniertat war es hingegen, Figuren und Figurenkonstellationen des Romanzyklus in mehreren zeitlich aneinander anknüpfenden Bänden auftreten zu lassen und ihr Schicksal unter wechselnden historischen Umständen fortzuspinnen.

Welche Figuren kommen in dem Romanzyklus vor?

Das Universum der »Menschlichen Komödie« ist von unterschiedlichsten Gestalten bevölkert: Börsenmakler und Industrielle finden sich neben Beamten und Angehörigen akademischer Berufe, Glücksrittern, Bohemiens und Dandys. Auch die Balzac bestens bekannte Sphäre des Verlags- und Zeitungswesens bildet mitunter die Bühne des Geschehens, in das sich auch Frauentypen jeglicher Couleur mischen, von der mütterlichen Bürgerin über die mondäne Bankiersgattin bis zur Kurtisane.

In Haupt- und Nebenrollen bilden rund 3000 Personen die »Besetzung«, teils als psychologisch differenziert gezeichnete Individuen, teils als klischeehafte Ideenträger. Meist birgt das Äußere unmissverständliche Hinweise auf ihre Wesensart, und auffällig ist der hohe Anteil an Parvenüs und Besessenen.

Übrigens: Innerer Zwang war Balzac nur zu gut vertraut: »Meine bisherigen Arbeiten sind nichts im Vergleich zu dem, was ich noch zu vollbringen habe … : Nacht für Nacht am Schreibtisch, und ein Band nach dem anderen.«

Wussten Sie, dass …

in der »Menschlichen Komödie« rund 250 Gerichte zum Teil minutiös beschrieben werden? Im zeitgenössischen Paris mit seinen vielen Restaurants fand Balzac ideale Bedingungen für seine lukullische Leidenschaft.

Balzac sich eine besondere Arbeitsmethode zugelegt hatte? Um etwa sechs Uhr abends legte er sich schlafen, stand um Mitternacht auf und hatte dann die ruhigen Nachtstunden für seine Schreibarbeit.

Was machte Balzac zu einem Mann der Extreme?

Die Biografie des am 20. Mai 1799 in Tours geborenen Beamtensohns liest sich streckenweise wie ein Roman: Nach dem Jurastudium ging er, anstatt Notar zu werden, als Schriftsteller nach Paris, hatte erste Erfolge, machte als Druckereibesitzer Bankrott und avancierte zum Star der literarischen Salons. Die Beziehungen zum anderen Geschlecht waren meist flüchtig, erst kurz vor seinem frühen Tod am 18.8.1850 ehelichte er eine langjährige Freundin. Tief verbunden blieb er zeitlebens der heimatlichen Touraine mit ihren Weinbergen, Obstgärten und Delikatessen. Der Genießer Balzac, der 100 Austern auf einmal vertilgen konnte, unterzog sich aber häufig auch der mühevollen Arbeit wochenlangen pausenlosen Schreibens, mit bescheidenster Nahrung und ungeheuren Mengen Koffein.

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