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Bundestagswahl: Wie aussagekräftig sind Prognosen?
Umfragen und Prognosen prägen unser Leben und vor allem die Zeit vor der Wahl. Aber vergangene Erfahrungen haben schon häufiger gezeigt, dass solche Vorhersagen auch kräftig daneben liegen können: Das sicher geglaubte EU-Referendum in Großbritannien fiel völlig anders als erwartet aus, der vermeintlich chancenlose US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump wurde 2016 zum mächtigsten Mann der Welt. Vor vielen Wahlen schmelzen Vorsprünge dahin oder ein vermeintlich knapper Ausgang fällt doch eindeutig aus.
Solche Beispiele zeigen, dass Wahlen ganz anders ausfallen können als es Umfragen und Prognosen vorhersagen. Aber wie kommt es dazu und wie ist die Lage im aktuellen Bundestagswahlkampf? Marcel Schütz, Wissenschaftler an der NBS Northern Business School – University of Applied Sciences hat sich in einem Forschungsprojekt mit den sozialen Auswirkungen von Prognosen beschäftigt. Er erklärt uns, wo die Knackpunkte liegen.
Herr Schütz, Sie schrieben Anfang des Jahres mit einem Kollegen in der Neuen Zürcher Zeitung darüber, wie Prognosen unseren Alltag prägen. Sie sagten: "Mit der längst stündlich am Smartphone abrufbaren Wettervorhersage, den Wahlprognosen und neuerdings den epidemiologischen Modellen ist die berechenbare Zukunft Teil unserer Gegenwart geworden." Was meinen Sie damit?
Schütz: Sie bringen es bereits auf den Punkt: Prognosen prägen unseren Alltag in allen möglichen Facetten; ob es um die neuesten Corona- oder Wirtschaftszahlen geht, um die Frage, ob wir jetzt noch ein paar Tage Spätsommer kriegen oder darum, wer denn nun als nächste oder nächster ins Kanzleramt einzieht. Und weil wir so viele Prognosen bekommen, bildet sich natürlich die Erwartung heraus, dass das immer so weiter geht. Zumindest bis zu einer Entscheidung, einem bestimmten Zeitpunkt, einer Zäsur: Irgendwann ist der Sommer endgültig vorbei und irgendwann ist Wahlsonntag – das fällt sogar zufällig zusammen.
Aber um auf die Frage zurückzukommen: Das Erwarten einer nächsten Entwicklung, ob nun einer natürlichen Sache wie dem Wetter oder einer politischen wie den Wahlen, dieses Erwarten verlangt stets nach neuen frischen Zahlen, also den nächsten Aussichten in die Zukunft. Man kann sich ja gar nicht mehr vorstellen, dass es einmal eine "Zukunfts-Diät" gäbe und ein paar Tage zahlenfrei blieben, man einfach gar nicht wüsste, ob es nächste Woche regnet oder die Sonne scheint, oder ob am 26. September die eine oder die andere Partei gewinnt.
Das heißt, man ist immer schon auf die nächsten Zahlen und Prozente fixiert. Können Sie das am Beispiel der Wahlen, die derzeit ja für Diskussion sorgen, nochmal präzisieren?
Ja richtig. Wenn Sie sich den Lauf der letzten Wochen anschauen, dann lässt sich sehen, wie ein eher "dahin plätschernder", langsam beginnender Wahlkampf auf einmal Fahrt aufnimmt. Hier kommen zwei Punkte zusammen, die letztlich zur größeren Beachtung der vielen Umfragen und Wahlprognosen führen. Zum einen zeigten die Erhebungen vor etwa drei und sechs Monaten, also zur Mitte und zu Beginn des Jahres, noch eine andere Prozentverteilung bei den Parteien; zum anderen schien das Geschehen insgesamt weniger dynamisch, teilweise waren die Werte einzelner Parteien wie eingefroren.
Dann kamen die bekannten drei Kanzlerkandidat/-innen ins Spiel und der Personenfaktor wurde heißer diskutiert. Die allmählichen Veränderungen hinsichtlich der Frage, wer welche Chancen hat, wer vorne liegt, wer Angela Merkel im Amt beerben könnte – das hat Debatten angestoßen, die die Aufmerksamkeit erhöhen und das Interesse an neuesten Einschätzungen steigern. Das hat letztlich dazu geführt, dass die neuen Stimmungen über Medien verbreitet und kommentiert werden und womöglich auf die Wahlchancen selbst Einfluss nehmen.
Die Leute beobachten und befragen sich gegenseitig, was man denn von dieser und jener Kandidatin hält, ob man schon das Neueste aus den Polit-Talkshows gehört habe. Sogenannte exogene Faktoren, also unerwartete akute Ereignisse vor einer Wahl, tun ihr Übriges. Es gab im Juli die Flut in Westdeutschland; und die wurde schnell zum Politikum. Alles was im Anschluss passiert, wird sehr genau und kritisch beäugt. Was Politiker und Politikerinnen tun oder nicht tun, das wandert schnell durchs Internet.
Die Rede von Stimmungen, das ist vielleicht ein gutes Stichwort. Vor Wahlen spricht man ja von einer "Wechselstimmung", wenn eine gefühlte oder vermutete Mehrheit der Menschen hierzulande einen Politik- oder Regierungswechsel wünscht. Hat man nur den Eindruck, dass sich Stimmungen generell schneller ändern oder ist da was dran?
Die politische Stimmung eines Landes dreht sich heute tatsächlich schneller als zu früheren Zeiten. Die Gründe dafür liegen vor allem in abnehmender Wähler- bzw. Parteibindung. Wahlforscher berichten, dass etwa 1950, 1980 oder auch noch 2000 der Anteil der Stammwähler viel höher war. Wenn man eine relativ hohe Stammwählerschaft in der Grundgesamtheit hat, also in der Population, die wählen darf, und nach ihren Präferenzen befragt wird, dann kann man sehr viel besser einschätzen, wie stabil diese Leute politisch einer Partei nahestehen. Wenn die Bindung an ein Parteilager abnimmt, muss man mit größerer Mobilität zur einen oder zur anderen Seite rechnen. Hier wird von der "volatilen Stimmung" gesprochen.
Hinzu kommen auch noch andere Faktoren: Bestimmte Regierungskonstellationen wie die jetzt viele Jahre regierende Große Koalition haben die klassische Lageraufteilung ohnehin durchbrochen. Die Grenzen sind fließender, wie sich auch am Beispiel der Grünen zeigen lässt, die heute sowohl klassische Wähler mit ökologischen Interessen ansprechen als auch Personen, die potenziell auch konservativer wählen könnten. Und auch bei Parteien wie der FDP oder SPD gibt es Wähler, die mehr oder weniger fest diesen Parteien zuneigen und beim nächsten Mal vielleicht schon Grüne oder Die Linke wählen.
Und dann gibt es noch Sondereffekte: Etwa durch einen hohen Briefwahlanteil – die Leute geben ihre Stimme früher und auch abhängig von Eindrücken einer aktuellen politischen Debatte ab. Oder sie wählen aufgrund eines externen Faktors, beispielsweise einer Katastrophe wie Hochwasser oder Terror, nochmal anders als geplant. Auch kann es sein, dass bestimmte kritische Wählermilieus durch die Umfragen gar nicht genau erfasst werden. So war es bei der Wahl Donald Trumps und beim Brexit, was zu den entsprechenden Überraschungen führte. Außerdem gibt es einen schwankenden Anteil an "Spätzündern". In den letzten Tagen vor der Wahl werden keine Umfragen mehr veröffentlicht, aber es gibt noch einige Leute, die sich erst jetzt in den letzten Stunden entscheiden.
Diese Entwicklung bedeutet aber doch auch, dass die Wähler nicht nur flexibler sind, was ihre Parteipräferenz betrifft, sondern auch gar nicht genau wissen können, welche Regierungskonstellation sie am Ende rausbekommen?
Ja, das ist ein bisschen die Ironie des Ganzen. Die Wähler wollen natürlich trotz ihrer abnehmenden Treue zu Parteien eine ungefähre Vorstellung davon haben, wer denn am Ende die Regierungschefin oder der Regierungschef wird und vielleicht auch, welche Parteibündnisse, also Koalitionen zustande kommen. Das aber wird in dem Maße schwieriger wie die Gewichtungen zwischen den Parteien sich verschieben.
Früher, also noch vor wenigen Jahren, waren CDU/CSU und SPD unangefochten die größten Parteien im Land, daher ja die Rede von "Volksparteien". Von ihrer Tradition her konnten diese Parteien breite gesellschaftliche Milieus bündeln. Aber wir sehen einen Trend, dass die großen Parteien ihre robuste Stammwählerschaft verlieren. Die Menschen sterben, nehmen an den Wahlen nicht mehr teil, wandern zur Konkurrenz und "vererben" auch in der Familie nicht mehr so stark die Meinung, wen man denn wählen sollte.
Der Stimmenkuchen wird immer breiter verteilt, weshalb auch neue Koalitionen erzwungen werden, tendenziell vermehrt mit drei statt zwei Parteien, wie es nun erstmals auch im Bund bevorstehen könnte. Es lässt sich nur sehr begrenzt abschätzen, welche Koalition am Ende wirklich rauskommt.
Man hört davon, dass die Wähler heute stärker auf Personen achten. Wie passt das denn zusammen?
Das ist sozusagen eine "Risikominimierung". Gerade weil ich nicht mehr sicher weiß, wer am Ende in welcher Konstellation mit wem regiert, gerade auch deshalb gibt es wohl bei dieser Bundestagswahl ein so genaues Hinsehen bei den Personen. Man könnte nämlich sagen, dass eine Entscheidung für einen bestimmten Kopf (und damit auch seine Partei) immerhin tendenziell noch das bezweckt, was sie bezwecken soll und nichts anderes: Ich wähle Frau Baerbock, weil ich auf jeden Fall ihr zutraue, das Kanzleramt zu führen. Ich wähle Herrn Laschet, weil der doch schon einige Jahre Ministerpräsident ist. Ich wähle Herrn Scholz, weil ich ihn schon als Vizekanzler gut fand. Manche denken sich auch einfach nur: Wer ist für mich das geringste Übel?
Natürlich kann ich die Leute gar nicht direkt in ihr Amt wählen, aber eben über ihre Partei. Ich kann allerdings keine drei, fünf oder sieben Koalitionsoptionen abschätzen, aber ich kann sagen: Die oder der soll es werden und weil die oder der es in meinen Augen kann, regeln die das mit der Regierung dann hinterher.
Eines aber darf man auch nicht vergessen: Es ist die erste Bundestagswahl, bei der eine amtierende Kanzlerin von sich aus abtritt, also ohne eine Abwahl und ohne einen erzwungenen Rücktritt. So einen Fall gab es bislang nie. Man hat dieses Szenario überall unterschätzt. Auf einmal wird das Rennen viel offener als lange prognostiziert. Das kann jetzt – abhängig davon, welches Amt sie schon innehaben und wie sie sich darin verkaufen – bei den Kandidat/-innen zu personalisierten Vor- oder Nachteilen führen.
Sie befassen sich in Ihrer Arbeit mit solchen "Unterschätzungen" bei Prognosen, unter anderem im vergangenen Jahr im Zuge der neuerlichen Anstiege bei den Corona-Zahlen. Warum rechnet man denn mit so wenig Überraschungen – jetzt konkret bei Wahlen?
Das ist eine spannende Frage. Eigentlich müsste man wissen, dass es im eigenen Leben ständig zu unerwarteten Wendungen kommen könnte. Aber hier spielt uns die Macht der Gewohnheit einen Streich. Wenn zum Beispiel ein Kandidat oder eine Partei über lange Zeit immer sehr weit vorn und die Herausforderer abgeschlagen hinten liegen, dann entsteht im Kopf beziehungsweise in den Erwartungen eine Art Pfadvorstellung.
Man geht davon aus, dass es wohl genauso bleiben wird, weil es ja schon beim letzten Mal und davor und selbst davor so war. Es ist für Menschen gar nicht so leicht vorstellbar, dass eine immer wieder stabilisierte Entwicklung auf einmal völlig kippt. Aber wie lehrt das Leben: Irgendwann ist immer das erste Mal. Das heißt für den konkreten Fall: Angela Merkel wurde solange gewählt, wie sie zur Wahl antrat. Aber wenn jemand sagt, dass er geht, dann realisiert man das erst dann richtig, wenn die neuen Leute auf der Matte stehen – oder richtiger gesagt: auf den Plakaten.
Und da sich nicht alle Wähler schon ein halbes Jahr im Vorfeld permanent mit Politik und Prognosen befassen, viele eher randläufig die Entwicklung beobachten, kommt man erst relativ spät zur endgültigen Einschätzung, für wen man denn nun stimmen will. Mag vorher auch noch so viel abstrakt gefragt werden, wie man sich in Monaten einmal entscheiden könnte, erst dann, wenn es so weit ist, wenn es immer näher rückt, dann kommt die Entscheidung. Und diesen "Minus-Merkel"-Faktor haben die Umfragen das Jahr über eben nicht einrechnen können. Die Erhebungen waren sozusagen unverschuldet "verfälscht".
Nochmal zum Anfang: Wenn immer mehr Umfragen durchgeführt werden und man jeden Tag auf die nächste lauert, welchen Einfluss hat das denn auf die Chancen der Parteien?
Wenn man es runterbricht: Zahlen erzeugen Stimmungen und Stimmungen erzeugen Zahlen. Man darf sich das nicht als direkten Prozess vorstellen, eher schleichend und sich langsam aufbauend. So verdichten sich Eindrücke. Über die Massenmedien, also die Berichterstattung, oder zunehmend auch die sozialen Netzwerke und die großen Talk- und Wahlkampfformate auf Plätzen und Bühnen, analog und digital, entstehen sozusagen "Sounds", die sich verbreiten. Es kann auch sein, dass ich am Ende einer Partei meine Stimme gebe, weil sie ohnehin schon weit vorne liegt, weil ich meine Stimme nicht verschenken will.
Generell kann man sagen, dass Stimmungen sich auch relativ hartnäckig verfestigen können, wodurch die einen profitieren und den anderen das Leben schwer gemacht wird. Es kommt auch zu selbsterfüllenden Prophezeiungen: Jemand wird immer besser, weil man ihn für den Besseren hält; jemand wird immer schlechter, weil man ohnehin nicht so viel von ihm hielt. Bevor die Mehrheit an der Wahlurne entschieden wird, entstehen gefühlte Mehrheiten Wochen vor der Wahl.
Aber wie es ausgeht, das weiß man natürlich nicht. Und das macht die Wahlen ja auch so spannend. Es kann immer noch was passieren. In den USA, die ihre Präsidenten ja alle vier Jahre Anfang November wählen, spricht man von "October Surprise" – das sind plötzliche Vorfälle und mögliche Stimmungsdreher, die nochmal Bewegung in die Zahlen bringen können. Aber planen kann man das nicht. Man braucht im Wahlkampf oft mehr noch Glück als Strategie.
Quelle: Northern Business School