Kennen Sie die Sage vom Waller im Walchensee? Im bayerischen Oberland zählt sie zu den wohl bekanntesten Erzählungen. Ein riesiger Fisch, ein Waller, so erzählen sich die Leute, hause auf dem Grund des Gewässers, südlich von München. Und - mit dem sei nicht zu spaßen. Ein junger Bursche, der als Taucher den See hätte ergründen wollen, sei ihm einst begegnet, dem riesigen Fisch mit einem weit aufgerissenen Rachen. Und ein Bauer aus Sachenbach beschrieb ihn 1855 als „riesiges Tier mit rollenden Augen, so groß wie Feuerräder“. Eine Art bayerische Nessy also. Die Leute waren davon überzeugt, dass dieser Waller sich in den Schwanz beiße und so den Kesselberg umspanne. Würden die Bewohner des Oberlandes vom Glauben abfallen, so ließe der Fisch los und die ganze Gegend bis hin zur Landeshauptstadt würde in den Fluten des Walchensees versinken. Die Sorge, sich den Zorn des Seeungeheuers zuzuziehen war groß, von 1450 bis 1805 wurde täglich in einer Gruftkapelle eine Messe gelesen, um Schlimmes zu verhindern. Zudem soll regelmäßig ein Mann durch München geritten sein, der das Volk ermahnte, für den Waller zu beten.
Pionier des Fortschritts
Und dann kam Oskar von Miller: Pionier des Fortschritts, Ingenieur und Mitglied des Reichsrats der Krone Bayerns. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts trieb ihm die Idee um, dem verschlafenen Land der Petroleumlampen und Pferde-Trambahnen die Elektrizität zu schenken. Und er wusste auch schon genau wie: er wollte den Höhenunterschied von 200 Metern zwischen Walchen- und Kochelsee zur Gewinnung elektrischer Energie nutzen. Sicher gab es Leute im Bayernland, die begeistert waren von einer solch wegweisenden Idee. Doch es gab auch Kritiker. Vor allem die Bewohner des oberen Isartals wehrten sich heftig gegen einen derartigen Eingriff in die Natur. Schließlich erinnerten sie sich: im Walchensee haust ein Ungeheuer mit dem nicht zu spaßen ist. Ihm könnte der Bau eines solchen Kraftwerkes derart gegen den Strich gehen, dass es mit seiner Schwanzflosse München unter Wasser setzt. Im Gegensatz dazu trieb die Regierung ganz andere Bedenken um, warum sie nicht sofort den Plänen zustimmte. Sie fragte sich ernsthaft: Wohin mit all dieser elektrischen Energie?
Oskar von Miller gab allerdings weder etwas auf alte Sagen über gefährliche Fische noch teilte er die Bedenken der Politiker. Gegen Ende des Ersten Weltkrieges hatte er sich endlich durchgesetzt. Am 21. Juni 1918 beschloss der Bayerische Landtag den Bau des Walchenseekraftwerkes. Dessen Turbinen wurden erstmals im Januar 1924 in Betrieb genommen. Zeitgleich wurde das Bayernwerk gegründet. Um den Turbinen genügend Zufluss zu sichern, wurde der Walchensee zusätzlich zu den natürlichen Zuflüssen mit Wasser aus der Isar und dem Rißbach gespeist. Das Kraftwerk war der Beginn einer Epochenwende. Über 1100 Kilometer Leitungen wurden mit Strom beschickt. Bayern konnte als erster deutscher Flächenstaat eine landesweite Stromversorgung aufweisen. Mit dem Kraftwerk im Loisachtal wurde so nicht nur Geschichte geschrieben, es eröffnete dem Freistaat auch die Möglichkeit, sich zu einem modernen Industriestandort zu entwickeln. Noch heute ist das Walchenseekraftwerk mit einer durchschnittlichen Jahreserzeugung von 320.000.000 kWh eines der größten Hochdruckspeicher-Kraftwerke Deutschlands. Und: Den Waller scheint das nicht zu stören.