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Der Atomausstieg ist da – und dann?
Am 30. Juni 2011 beschloss der Deutsche Bundestag den Ausstieg aus der Atomenergie. Unter dem Eindruck des dramatischen Atomunglücks von Fukushima im März 2011 waren sich die Parteien weitgehend einig, dass die Risiken der Kernenergie nicht mehr vertretbar seien. In Folge der Entscheidung wurden noch im Sommer 2011 die acht ältesten, vor 1980 in Betrieb genommenen Atomkraftwerke stillgelegt. In den Folgejahren bis 2021 gingen weitere sechs AKW vom Netz.
Die letzten drei Atommeiler
Seitdem waren nur noch drei deutsche Atomkraftwerke in Betrieb: Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2. Sie sollten eigentlich bis Ende 2022 vom Netz genommen werden, ihre Laufzeit wurde aber wegen der Energiekrise durch den Ukrainekrieg bis 15. April 2023 verlängert. Nach langen Debatten über eine weitere Verlängerung steht nun fest: Die drei letzten Atomkraftwerke in Deutschland gehen wie beschlossen an diesem Wochenende außer Betrieb.
„Nach über 35 Jahren Laufzeit der deutschen Atomkraftkraftwerke und mehr als vier Jahrzehnten intensiver Diskussion um den Atomausstieg ist das Kapitel ‚Kernenergienutzung in Deutschland‘ jetzt beendet", kommentiert der Nuklear-Experte Christoph Pistner vom Öko-Institut. "Damit geht die Nutzung einer Technologie, die mit dem Risiko schwerer Unfälle sowie mit großen Mengen hochradioaktiver Abfälle und dem Risiko einer Weiterverbreitung von Atomwaffen einhergeht, in Deutschland zu Ende."
Die radioaktive Gefahr ist nicht vorbei
Allerdings: Auch wenn nun bei uns alle Kernkraftwerke abgeschaltet sind, sind deswegen noch lange nicht alle Risiken der Kernenergie beseitigt: Das Problem der radioaktiven Abfälle, Kernkraftwerke im grenznahen Ausland und neue Bedrohungen wie der Ukrainekrieg sind noch immer eine Gefahr. „Für die nachfolgenden Generationen ist das Kapitel Atomenergie mit dem 15. April noch nicht geschlossen", betont Wolfram König, Präsident des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE).
"Über viele Jahrzehnte müssen nun die offenen Fragen gelöst werden, die während des Atomzeitalters in Deutschland nicht beantwortet worden sind. Den gut sechs Jahrzehnten, in denen die Atomenergie zur Stromerzeugung genutzt wurde, stehen noch mindestens weitere 60 Jahre bevor, die wir für den Rückbau und die langzeitsichere Lagerung der Hinterlassenschaften benötigen werden“, so König weiter.
Wohin mit den radioaktiven Abfällen?
Ein Problem sind die radioaktiven Abfälle, die in den über 60 Jahren der Atomenergie-Nutzung übriggeblieben sind. Allein aus dem Betrieb der deutschen Kernkraftwerke resultieren rund 1.900 Behälter mit hochradioaktiven Abfällen, die derzeit in 16 Zwischenlagern aufbewahrt werden. Neben diesen besonders gefährlichen und langlebigen hochradioaktiven Abfällen müssen zudem gut 600.000 Kubikmeter an sogenannten schwach- und mittelradioaktiven Abfällen sicher entsorgt werden.
Dieser Atommüll stammt zum einen aus dem Betrieb der Atomkraftwerke und deren Rückbau. Zum anderen gehören auch Altlasten aus dem ehemaligen Atommülllager Asse II sowie Abfälle aus der Urananreicherungsanlage Gronau dazu. „Für einen begrenzten Zeitraum kann all dies in speziell gesicherten Zwischenlagern an der Oberfläche gelagert werden. Für die langfristig sichere Lagerung müssen diese Abfälle jedoch in speziellen Lagern in tiefen geologischen Schichten von Mensch und Umwelt isoliert werden“, erklärt König.
Bisher ist allerdings noch kein Standort für ein solches Endlager gefunden – und ob die bisher erforschten Methoden zum sicheren Einschluss der radioaktiven Abfälle wirklich sicher sind und wie lange sie halten, ist offen. „Es führt kein Weg daran vorbei, dass sich unsere Generationen um den sicheren Verbleib der radioaktiven Altlasten kümmern müssen", so König. "Erst wenn dies dauerhaft gewährleistet ist, ist der Atomausstieg vollständig umgesetzt."
Risiko durch Nachbarländer bleibt
Eine weitere Gefahr geht von den Atomkraftwerken aus, die jenseits unserer Grenzen in den Nachbarländern stehen. „Der Atomausstieg ist zwar ein klarer Zugewinn an Sicherheit in Deutschland", sagt Inge Paulini, Präsidentin des Bundesamts für Strahlenschutz (BfS). "So lange aber in unmittelbarer Nachbarschaft weiterhin Kernkraftwerke in Betrieb sind oder gar neu geplant werden, sind die Risiken der Kernkraft nicht gebannt. Wir müssen daher weiterhin auf etwaige Notfälle vorbereitet sein."
Immerhin sieben AKW-Standorte in unseren Nachbarstaaten sind weniger als hundert Kilometer von Deutschland entfernt, darunter einige bereits als "Pannenmeiler" berüchtigte, relativ betagte Kernkraftwerke in Belgien, Frankreich oder Tschechien. "Radioaktivität macht an Grenzen nicht halt. Das Reaktorunglück von Fukushima hat gezeigt, dass Kernkraft selbst für hochentwickelte Industriegesellschaften ein unkalkulierbares Risiko darstellen kann", sagt Paulini.
Einige Länder planen angesichts der aktuellen Energiekriese zudem einen längeren Betrieb ihrer Atomkraftwerke oder versprechen sich von neuen Reaktortechnologien wie den sogenannten Small Modular Reactors Vorteile in der Zukunft. „In absehbarer Zeit können andere Atom-Technologien aber weder die Altlasten der Atomenergie-Nutzung beseitigen noch die drängenden Fragen des Klimawandels beantworten", sagt König. "Keine der diskutierten Technologien sind zudem derzeit oder absehbar am Markt verfügbar.“ Auch zentrale Fragen zur Sicherheit dieser Konzepte seien noch nicht geklärt, manche Technologien würden sogar mit neuen Risiken einhergehen.
Neue Bedrohungsszenarien
Und auch abseits von AKW und Atommüll gibt es Gefahren im Zusammenhang mit Radioaktivität: „Der Krieg in der Ukraine zeigt uns gerade sehr deutlich: Das Risiko eines radiologischen Unfalls mit gravierenden Folgen für Mensch und Umwelt besteht weiterhin", sagt Paulini. Oft vergessen werde zudem, dass auch von den deutschen Kernkraftwerken ein – wenn auch kleines – Risiko ausgeht, solange sie im Rückbau sind.
Quelle: Bundesamt für Strahlenschutz