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Der gelähmte Pianist - Konzert eines Jungen macht Hoffnung
Ein früher Schicksalsschlag
Im Alter von vier Jahren erhielt Alberto die niederschmetternde Diagnose: Ein Tumor im Rückenmark. Die Behandlung des Krebsgeschwürs schädigte die Nervenbahnen. Nach Monaten im Krankenhaus war der Krebs zwar besiegt, doch zu einem hohen Preis: Alberto war querschnittsgelähmt. Anstatt sich deswegen in Kummer zurückzuziehen, entwickelte der Junge eine "Jetzt erst recht"-Einstellung und fasste sich ein scheinbar in unerreichbare Ferne gerücktes Ziel: Pianist zu werden.
Das erste Problem war die Beschaffung eines Klaviers. Doch dank einer großzügigen Spende einer amerikanischen Wohltätigkeitsorganisation hatte Alberto bald sein ersehntes Musikinstrument bei sich zu Hause stehen. Beflügelt von seinem Traum, übte der Junge mit Hingabe. Durch das intensive Training waren seine von der Erkrankung beeinträchtigten Arme schließlich wieder voll einsetzbar.
Ein unüberwindbares Hindernis?
Das Talent des kleinen Jungen beeindruckte nicht nur seine Eltern. Es brachte Alberto sogar ein Stipendium ein, mit dem er seine musikalische Ausbildung weiter vorantreiben konnte. Aber bald stieß er an die Grenzen seiner körperlichen Fähigkeiten: Musikstücke, die den Einsatz der Klavier- Pedale vorsehen, konnte der ehrgeizige Pianist nicht oder allenfalls eingeschränkt spielen.
Dieses Hindernis war nicht nur Albertos persönlichen Träumen im Weg, sondern gefährdete auch seine weitere musikalische Ausbildung. Im harten Konkurrenzkampf an der Musikschule hätte ihn diese Einschränkung sein Stipendium kosten können - und die Finanzierung der kostspieligen Ausbildung wäre für seine Eltern alleine nicht möglich gewesen.
Neue Hoffnung
Weil seine Beine, anders als seine Arme, nie wieder ihre Beweglichkeit zurückerlangen würden, schien die Lage aussichtslos. Doch die Forschungsergebnisse von Rüdiger Rupp vom Querschnittzentrum am Universitätsklinikum Heidelberg ließen hoffen. Rupp und sein Team entwickelten zu der Zeit eine spezielle Beißschiene, mit der Querschnittsgelähmte über Funk elektrische Geräte ansteuern können - zum Beispiel ein motorisiertes Klavierpedal.
"Die Arbeit an der Funkbeißschiene lag damals auf Eis", erinnert sich Rupp. "Doch Albertos Geschichte, seine Zielstrebigkeit, hat mich so fasziniert und bewegt, dass ich ihm unbedingt helfen wollte." Rupp, der 2008 für die Beißschiene mit dem Innovationspreis der Deutschen Stiftung Querschnittlähmung (DSQ) ausgezeichnet worden war, bereitete mit dem Preisgeld und einer privaten Spende den Weg für die Weiterentwicklung der Beißschiene.
Beißschiene 2.0
Das Ergebnis: Eine Beißschiene, die nun klein genug ist, um auch in Albertos Teenager-Mund zu passen. Anders als die erste Version hat die neue Beißschiene einen Drucksensor, der hinter den Schneidezähnen im Mund befestigt wird. Mit der Zunge kann Alberto dadurch gefühlvoll und stufenlos den Pedaldruck regulieren - einfach indem er die Zunge gegen den Sensor presst. Dieser überträgt das Signal an einen kleinen, leistungsstarken Motor, der das Klavierpedal betätigt: genauso schnell und fließend, wie es ein Pianist sonst mit dem Fuß machen würde.
Die Beißschiene ist extra für Alberto angepasst. Er hatte seinen Kieferabdruck dafür zuvor nach Deutschland geschickt. Im September 2016 besuchte Rupp die Familie Mancarella in Los Angeles und brachte das fertige Gerät zum Anpassen mit. Ab diesem Tag übte Alberto täglich mit speziellen Computerprogrammen und Geschicklichkeitsspielen die Bedienung des Sensors. Wie es sich mit diesem technischen Wunderwerk nun letztlich Klavier spielt, konnte Alberto allerdings erst bei seinem Besuch in Deutschland ausprobieren.
Der große Tag
Am 26. März 2017 traf Alberto in Heidelberg ein. In fünf Tagen sollte er bei einer Preisverleihung der Deutschen Stiftung Querschnittlähmung zum ersten Mal vor großem Publikum die Funktion der Beißschiene und sein einmaliges Musiktalent demonstrieren. Dazu studierte der mittlerweile 15-Jährige innerhalb dieser kurzen Vorbereitungszeit ausgewählte Stücke ein.
Am 31. März 2017 geht dann Albertos großer Traum in Erfüllung. In der Aula der Universität Heidelberg sitzt er an dem Flügel mit Pedalmotor. Der Saal wird ruhig. Dann spielt Alberto Beethovens Mondscheinsonate. Ein wahrer Gänsehautmoment. Für ihn und alle Anwesenden.
Freude mit Wehrmutstropfen
Nach dem erfolgreichen Auftritt applaudierte das Publikum begeistert. Dem jungen Pianisten und dem Entwickler der Technik waren Freude und Erleichterung ins Gesicht geschrieben. "Heute wäre Bachs Geburtstag", erklärte Rupp. "Über dieses Konzert würde er sich sehr freuen." Und Alberto Mancarella fasste zusammen: "Ich bin sehr, sehr glücklich."
Einziger Wehrmutstropfen an diesem bedeutsamen Tag waren Albertos Eltern. Die waren nämlich in den Vereinigten Staaten geblieben: Als italienische Immigranten leben sie mit Green Card in den USA und haben aufgrund der unsicheren politischen Lage derzeit die Staaten lieber nicht verlassen. Dafür waren Albertos Großeltern aus Rom mit dabei und konnten den einmaligen Auftritt ihres Enkels aus der ersten Reihe miterleben. Als Andenken nahmen die Mancarellas nicht nur eine atemberaubende Erinnerung mit, sondern auch die Beißschiene - die hat Alberto zum krönenden Abschluss zusammen mit dem Pedalmotor als Geschenk bekommen. Jetzt kann er seine Ausbildung an der Musikschule mit Sicherheit mit dem Stipendium fortsetzen.
Mehr als Zukunftsmusik
Rupp plant bereits die Weiterentwicklung der Beißschiene: Mit Hilfe der druckempfindlichen Folie ließen sich je nach Position des Zungendrucks auch die anderen Pedale eines Flügels ansteuern oder auch bestimmte Funktionen an einem Keyboard. "Entsprechende Anfragen querschnittgelähmter Musiker sind schon bei mir eingegangen", so Rupp. Denkbar wäre auch ein Einsatz der Funkbeißschiene für die Bedienung eines Rechners oder elektrischen Rollstuhls - interessant vor allem vor Menschen, die von der Halswirbelsäule an abwärts gelähmt sind.
Der Ingenieur hofft, mit einem breiteren Anwendungsgebiet das Interesse der Industrie sowie weiterer Förderer zu wecken, damit die Forschung und Entwicklung weitergehen kann. Rupp wird dran bleiben - dank Alberto: "Da ist so eine Freude in seinen Augen. Ohne diesen beeindruckenden Jungen hätte ich dieses Projekt nicht weiter verfolgt."