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Europawahl: Steckt ein Rechter in jedem von uns?

Am Sonntag, 09. Juni 2024, ist Europawahl. Dabei erwarten Experten erneut einen Rechtsruck. Allein in Deutschland planen etwa 15 Prozent der Menschen, die AfD ins Europaparlament zu wählen. Doch warum sind rechte Parteien in Europa aktuell so beliebt? Was veranlasst jemanden zum Rechtsextremismus? Und warum tragen wir psychologisch betrachtet alle ein gewisses Potenzial zur Spaltung in uns?
AMA, 07.06.2024
Alice Weidel, Geert Wilders, Giorgia Meloni und Viktor Orbán (v.l.n.r.) vor einem Symbol der Europawahl 2024

© Hintergrund: Blablo101, iStock; Alice Weidel: Sandro Halank / CC BY-SA 4.0; Geert Wilders: David Sedlecký / CC BY-SA 4.0; Giorgia Meloni: Presidenza del Consiglio dei Ministri / CC BY 3.0; Viktor Orbán: European People's Party / CC BY 2.0. – Die Personen wurden freigestellt und farbentsättigt.

In Deutschland ist es die AfD, die für rechtpopulistische bis rechtsextremistische Inhalte steht, in Polen die Pis-Partei, in Österreich die FPÖ und in Italien die Fratelli d’Italia. Solche rechten Parteien scheinen den aktuellen Zeitgeist zu treffen, denn durch Europa geht seit einigen Jahren ein erstarkender Rechtsruck. Rechtspopulisten liegen in vielen Ländern bei Umfragen weit vorne, wie beispielsweise in Frankreich, oder beteiligen sich immer häufiger sogar an der Regierung wie in den Niederlanden.

Bei der Europawahl könnte sich dieser Trend fortsetzen – auch hierzulande. In Umfragen geben 15 Prozent der Deutschen an, dass sie die AfD wählen werden. Europaweit betrachtet wäre es Wahlexperten zufolge sogar gut möglich, dass am Ende rund ein Viertel der Sitze im Europaparlament an Vertreter von Parteien am rechten Rand gehen.

Warum erlebt Europa einen Rechtsruck?

Komplett verschwunden waren Rechtspopulismus und Rechtsextremismus nie – weder in Europa noch anderswo in der Welt. Doch seit rund zehn Jahren beobachten Politikwissenschaftler, dass die Ideologien weit rechts stehender Parteien immer „normaler“ und gesellschaftsfähiger werden, Mainstream sozusagen. Aber warum? „Gerade in Westeuropa fühlen sich viele Menschen nicht mehr so, als hätten sie Anteil am wirtschaftlichen Fortschritt. Dieser Grundoptimismus, dass es den Kindern einmal besser gehen wird als den Eltern, ist abhanden gekommen“, erklärt Politikwissenschaftler Yascha Mounk im Interview mit dem ZDF.

„Zweitens gibt es große demografische und kulturelle Veränderungen, die in Teilen der Bevölkerung verständlicherweise Sorgen auslösen. Drittens hat sich die Grundsituation der Demokratien durch die Erfindung des Internets und der Sozialen Medien gewandelt. Das macht es neuen Parteien einfacher, Stimmen zu bekommen und manchmal auch einfacher, Lügen oder Hass zu verbreiten“, so Mounk weiter. Dabei spielen populistische Parteien bewusst mit den Sorgen und Ängsten der Menschen und bieten ihnen in schwierigen Zeiten möglichst einfache Antworten. Sie schaffen so ein falsches Gefühl von Orientierung und Sicherheit inmitten von Krieg, Klimawandel und Pandemie.

„Ich würde auch noch einen vierten Grund dazufügen. Zum Teil fühlen sich die Leute von der Politik nicht repräsentiert, in den Medien nicht adäquat dargestellt. Sie haben das Gefühl, dass es in den Großstädten einen Zirkel einflussreicher, hochgebildeter Mehrverdienender gibt, die für ihre Sicht- und Lebensweise nicht den nötigen Respekt aufbringen“, so Mounk. Sich als besonders volksnah zu inszenieren, kann für rechtspopulistische Parteien also bereits reichen, um einen großen Vorteil gegenüber etablierten Parteien zu haben.

„Wir“ gegen „die“

Das Potenzial zur rechten Gesinnung und Spaltung steckt dabei in jedem von uns, zumindest psychologisch betrachtet, wie Christine Bauriedl-Schmidt von der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie erklärt. „Hinter antidemokratischen Tendenzen stehen psychologisch gesehen unbewusste Abwehrmechanismen: Alles, was als irgendwie anders erlebt wird, erzeugt ein unangenehmes Gefühl, das deshalb manchmal als nicht zu sich gehörig abgespalten wird“, so die Expertin.

Es entsteht eine Abgrenzung zwischen „uns“ und „den anderen“, zwischen „gut“ und „böse“. Zu den vermeintlich Bösen gehören dann all jene Personen, die anders denken, leben oder aussehen als man selbst – also zum Beispiel Migranten, Juden, Angehörige der LGBTQ-Community oder die sogenannten Eliten. Psychologisch betrachtet soll uns diese Denkweise entlasten. Denn komplexe Konflikte mit vielen Facetten werden durch das Kastendenken auf einmal zu etwas Überschaubarem und Simplem – einfache Antworten auf schwierige Fragen eben.

„Wir alle haben das Potenzial in uns“

Es verwundert daher nicht, dass jeder von uns solche Mechanismen tief in sich trägt. „Wir alle haben das Potenzial in uns, in ein solches Muster zu verfallen, wenn wir sehr belastet sind“, erklärt Bauriedl-Schmidt. Gerade in der heutigen Zeit ist eine solche Denkweise unserem Gehirn nur schwer übel zu nehmen: „Die Welt wird immer komplizierter, durch Kriege wie etwa in der Ukraine oder in Gaza, eine drohende Klimakatastrophe, Globalisierung, Digitalisierung, Beschleunigung, durch die Auflösung der dualen Weltordnung von Westen und Ostblock oder Infragestellung der Geschlechteridentität.“

Doch obwohl wir alle derselben komplizierten, schnelllebigen Welt ausgesetzt sind, wählt längst nicht jeder AfD. Das liegt daran, dass nicht jeder gleich anfällig für den Abwehrmechanismus der Spaltung ist, aber auch, dass er nicht jeden automatisch ins rechte Lager treibt. Eine starke Abwehrhaltung gegen Andersdenkende kann einen genauso in andere politische Extreme befördern. Was wir aus unserem angeborenen Hang zu einfachen Lösungen und “Sündenböcken” machen, hängt letztlich von vielen Faktoren ab, darunter unserem Umfeld und unserer eigenen Lebensgeschichte, erklärt Bauriedl-Schmidt.

Um herauszufinden, wie sehr unsere Weltsicht vom Spaltungsdenken beeinflusst wird, rät die Psychologin eine tiefgehende Selbsterkundung: „Sich selbst gut kennenzulernen, zum Beispiel in einer Psychoanalyse, ist die beste Möglichkeit, eigenen Abwehrmechanismen auf die Spur zu kommen und zu erkennen, dass das, was ich im Außen verorte, ein Teil von mir selbst ist.“

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