Für einem Moment war es still. Mütter blickten sich fragend an. Der sonst so lebhafte Elternabend einer gemischten ersten und zweiten Klasse im bayerischen Fürth stockte. „Was, die Kinder sollen in Sexualerziehung unterrichtet werden?“, fragte eine Mutter. „Jetzt schon?“, eine zweite. Eltern siedeln Themen rund um den ersten Kuss und die Liebe eben eher in der Pubertät an und orientieren sich an ihren eigenen Erfahrungen. Dass diese bereits in der Grundschule auf dem Lehrplan stehen, ist vielen gar nicht bewusst und manchen auch nicht recht.
Furcht der Eltern
„Erwachsene denken bei Sexualpädagogik in der Grundschule oft an Erwachsenenthemen, wie den Geschlechtsverkehr“, weiß Irene Böhm, die beim deutschlandweiten Verband pro familia arbeitet und dort Grundschulen zu Sexualität und Prävention berät. Sexualerziehung wird irrtümlich mit Sexualkunde gleichgesetzt. „Im Schulunterricht geht es jedoch um das Fördern eines positiven und informierten Umgangs mit dem eigenen Körper. Es geht um Themen wie Freundschaft, Sich-Verlieben, Rollenbilder, unterschiedliche Familienformen oder den Respekt vor Schamgrenzen – also um Grundkompetenzen, die unter anderem für eine spätere erfüllte Partnerschaft wichtig sind.“ Eine Sexualerziehung gibt es ja von Geburt an – ob in Form von aktiver Erziehung, Ignoranz, Tabus oder Verboten. Schon Kindergartenkinder sind an Informationen über ihren Körper und die Geburt interessiert und verstehen die Botschaft: „Mein Körper, gehört mir!“ - wie ein gleichnamiges Aufklärungsbuch von pro familia heißt.
Unterricht schützt vor Schwangerschaft
Kinder müssen gestärkt werden, selbst über ihren Körper zu bestimmen und sich gegen das Verletzen von Grenzen zu wehren. Sexualerziehung schützt vor sexueller Gewalt und, wie der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte betonte, auch vor Teenager-Schwangerschaften, deren Zahl mit jährlich 10.000 immer noch zu hoch liegt. Hintergrund: Die Pubertät setzt heute früher ein. Laut der Jugendsexualität-Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) 2006 hat jedes zweite Mädchen die erste Regelblutung im Alter von 11 oder 12 Jahren. Hinzu kommt, dass Medien heute mehr Einfluss haben als die eigenen Eltern, skizziert die Professorin für Sexualerziehung Karla Etschenberg das Dilemma: „Wenn Eltern ihrem Erziehungsauftrag nicht nachkommen und Lehrer sich dann zurückziehen, sind Kinder Internet und Fernsehen preisgegeben. Aber die Medien sind keine anerkannten Pädagogen!“
Sexualerziehung seit 1968
Fachleute fordern daher eine gute, fundierte, kindgerechte Aufklärung ab der ersten Klasse. Doch was ist gut? Und was kann und muss erklärt werden und was nicht? Zunächst einmal: Es gibt keine festen Lehrpläne zum Thema Sexualität, obwohl die Kultusministerkonferenz schon 1968 Schulen zum fächerübergreifenden Unterricht verpflichtete. Einig sind sich die Bundesländer mittlerweile immerhin über folgende Inhalte des Pflichtunterrichts in der Grundschule: In der ersten und zweiten Klasse steht das Thema „Ich bin“ mit den Aspekten Körper, Berührungen und Gefühle im Mittelpunkt. Im dritten und vierten Schuljahr liegt der Fokus auf dem „Ich in Beziehung zu ...“ mit Inhalten wie Körperaufklärung, Schwangerschaft, Geburt, Geschlechterrollen, Freundschaft, Pubertät und Prävention vor sexueller Gewalt. Je nach Bundesland und dem Engagement von Schulen und Lehrern wird der Stoff dann unterschiedlich umgesetzt.
Impulse im Alltag wichtig
Etschenberg, die früher an der Uni Kiel und Flensburg lehrte, sagt: „Guter Sexualkunde-Unterricht steht immer auf zwei Säulen: Einerseits soll ein sachlich und pädagogisch begründeter Plan zum Thema Sexualität von der ersten Klasse an wirksam sein. Andererseits soll die Lehrkraft spontan Auskunft geben können, wenn Kinder signalisieren, dass sie über ein Thema sprechen möchten – beispielsweise über die Beschneidung von Jungen.“ Darüber hinaus sollen Pädagogen im Schulalltag sexualerzieherische Impulse geben, etwa wenn Jungs sich als „schwule Sau“ beschimpfen oder fragwürdige Rollenzuweisungen vornehmen.
Ratlos bei Anmache im Chatroom
„Grundsätzlich kann man mit Kindern über alles reden, keine Frage sollte abgewimmelt werden. Man muss nur kindgerechte Worte finden und den richtigen Kontext herstellen“, sagt Etschenberg. Dabei muss der Lehrer nicht zum Experten werden, aber er sollte Orientierung geben. Bei pro familia werden Einzelgespräche oder geschlechtsgetrennter Unterricht mit vielen Freiräumen empfohlen, weil so auf Jungen und Mädchen besser eingegangen werden kann. „Völlig fehl am Platz ist es aber, im Unterricht Details aus der Erwachsenensexualität zu erzählen oder Schauergeschichten über die Gefahren des sexuellen Handelns auszumalen“, sagt Etschenberg. Böhm stimmt zu: „Pornografie gehört nicht in die Grundschule.“ Was bisher fehlt, ist ein Aufarbeiten medialer Eindrücke. „Auch der ganze Bereich der sexuellen Anmache in Chatrooms müsste im Unterricht aufgegriffen werden. Aber hier ist die Ratlosigkeit bei Pädagogen ziemlich groß. Bisher weiß keiner, wie didaktisch-methodisch richtig auf Sexualität in Medien einschließlich Pornografie reagiert werden soll“, so Etschenberg.