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Gentherapie – wie weit ist die Medizin?
Nicht heilbar, bestenfalls behandelbar – das gilt auch heute noch für viele Krankheiten. Denn Leiden wie die Bluterkrankheit, Mukoviszidose oder die tödlich endende Chorea Huntington beruhen auf angeborenen Fehlern im Erbgut. Diese Mutationen und Gendefekte bleiben damit ein Leben lang erhalten und sind nicht ohne weiteres zu beheben, denn sie verbergen sich in dem Code, der unseren Körper und seine Funktionen steuert. Therapieren lassen sich meist nur die Folgen dieser genetischen Fehler – indem man die Symptome lindert oder fehlende Stoffwechselmoleküle als Medikament einnimmt.
Wie funktioniert die Gentherapie?
Doch schon vor 30 Jahren weckte ein ganz neue Form der Behandlung die Hoffnung, auch genetische Krankheiten heilen zu können: die Gentherapie. Bei dieser wird im Prinzip einfach das defekte Gen oder Genstück aus dem Erbgut ausgeschnitten und durch eine intakte, funktionsfähige Version ersetzt – so die simple Theorie.
In der Praxis jedoch hat dieses Vorgehen einige Tücken. Zum einen muss man genau wissen, welche DNA-Sequenz die Krankheit verursacht und wie die korrekte Version aussieht. Dann muss man eine Methode finden, um das korrekte Genstück in die Zellen einzuschleusen und ins Erbgut einzubauen. Dies muss zudem an der richtigen Stelle - und nur dort - geschehen. Denn wenn die "Flicken" an anderer Stelle landen, können sie selbst zu Krankheitsauslösern werden und beispielsweise Krebs verursachen. All das macht eine Gentherapie zu einem extrem komplizierten und risikoreichen Verfahren.
Das Mädchen Ashanti – die erste Gentherapie-Patientin
Doch im November 1990 wagen Wissenschaftler der US National Institutes of Health einen ersten Versuch: Sie führen die erste Gentherapie bei einem Meschen durch. Patientin ist das vierjährige Mädchen Ashanti DeSilva, das an der genetisch bedingten Immunschwäche ADA-SCID leidet. Durch den Gendefekt fehlt ihr das Enzym Adenosin-Deaminase (ADA). Als Folge reichert sich ein für weiße Blutkörperchen giftiges Abbauprodukt in ihrem Körper an und sie leidet an einem Mangel dieser für die Immunabwehr wichtigen Zellen. Sie ist daher Krankheitserregern fast schutzlos ausgeliefert.
Um den Gendefekt zu beheben, entnehmen die Mediziner Ashanti einige ihrer wenigen verbliebenen weißen Blutkörperchen und schleusen mithilfe eines Virus das intakte ADA-Gen in deren Erbgut ein. Die so veränderten Blutkörperchen werden dem Mädchen anschließend über eine Infusion wieder verabreicht. Tatsächlich schlägt die Behandlung an: Ashantis weiße Blutkörperchen vermehren sich wieder, ihr Immunsystem stabilisiert sich.
Zu früh gefreut
Damit scheint die Sensation perfekt und ein Meilenstein der Gentherapie erreicht. Doch diese erste Euphorie hält nicht lange an. Bei Ashanti lässt die Wirkung der Therapie nach einigen Jahren nach, die eingeschleuste Genveränderung verschwindet wieder aus ihren Zellen. Noch schlimmer jedoch: Einige auf die gleiche Art behandelte Kinder mit dieser Immunschwäche entwickeln einige Jahre nach ihrer Gentherapie Leukämie – ein Anzeichen dafür, dass die Reparatur-Gene an falschen Stellen im Erbgut eingebaut wurden.
Noch schlimmer trifft es 1999 den jungen Jesse Gelsinger. Ihn sollte ein Gentherapie mit Adenoviren als "Genfähren" von einer angeborenen Stoffwechselkrankheit heilen. Dafür bekommt er die Viren mitsamt der Reparaturgene direkt in die Leber injiziert. Mit tödlichen Folgen: Der Körper wehrt sich gegen die Virenschwemme und löst Fieber, schwere Entzündungen und Organversagen aus. Vier Tage nach der Infusion ist Gelsinger tot. Er gilt bis heute als das erste offizielle Opfer der Gentherapie.
Diese Fälle verdeutlichen, wie schwer es ist, die Ersatzgene auf verträgliche und zielgenaue Weise in das menschliche Erbgut einzuschleusen. Trotz aller Suche nach besseren Genfähren stagniert die Entwicklung der Gentherapie nach diesen Rückschlägen. Mman findet einfach keine ausreichend sichere Methode.
Neue Hoffnung durch die Genschere CRISPR/Cas9
Doch inzwischen hat sich das geändert. Denn die Entdeckung der Genschere CRIPS/Cas9 hat den Genetikern und Genmedizinern ganz neue Möglichkeiten eröffnet, das menschliche Genom zu editieren. Denn mit diesem von Bakterien "abgeschauten" Molekül-Komplex lassen sich Mutationen und Gendefekte weit präziser und einfacher aus dem Erbgut ausschneiden und ersetzen als jemals zuvor.
Das funktioniert, weil ein Teil des CRISPR-Moleküls das Gegenstück der gesuchten DNA-Sequenz trägt. Die Genschere kann deshalb nur dort an das Erbgut andocken und so gezielt nur dieses Stück herausschneiden. Der Anteil der Fehlplatzierungen ist dadurch viel geringer als mit anderen Methoden. Inzwischen haben Wissenschaftler diese Genschere bereits dazu genutzt, Mäuse von der erblich bedingten Muskeldystrophie Duchenne zu heilen. Außerdem gelang es ihnen, in menschlichen Zellen eine Alzheimer-Mutation zu korrigieren und den Gendefekt der Sichelzellen-Anämie zu reparieren.
Noch werden erste Anwendungen dieser Gentherapie-Technik vorwiegend in Tierversuchen erprobt, doch auch einige klinischen Studien am Menschen laufen bereits. „Dieses genetische Werkzeug hat eine enorme Macht, die uns alle beeinflussen wird“, sagte im Oktober 2020 Claes Gustafsson, Vorsitzender des Nobel-Komitees für Chemie bei der Nobelpreisverleihung an die Entdeckerinne der Genschere.
Potenzial auch für ethisch umstrittene Anwendungen
Damit eröffnen sich allerdings auch ethisch bedenkliche Möglichkeiten, ins menschliche Erbgut einzugreifen. In China wurden jüngst zwei kleine Mädchen geboren, deren Erbgut schon lange vor ihrer Geburt einer Art Gentherapie unterzogen wurde: Forscher haben mit CRISPR/Cas9 ein Gen eingeschleust, das gegen die Immunschwäche Aids schützen soll. Weil diese Veränderungen schon im Embryo durchgeführt wurden, tragen nun alle Zellen der Mädchen dieses Gen – einschließlich ihrer Keimzellen.
Genau das aber macht solche frühen Eingriffe extrem umstritten. Denn sie verändern nicht nur alle Zellen ihrer Träger, die Genveränderungen werden auch an alle Nachkommen weitergegeben. Passiert ein Fehler oder treten Spätfolgen, sind daher alle Folgegenerationen betroffen. In Deutschland und vielen andern Ländern ist deshalb eine solche Keimbahn-Therapie verboten. Ob dies so bleiben wird und welche Fortschritte die Gentherapie in den nächsten Jahren erzielen wird, muss sich nun zeigen.