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Klimawandel: Wie bedrohlich sind die Kipppunkte?
Der Begriff „Kippelemente“ wurde im Jahr 2008 von Klimaforschern eingeführt. Sie bezeichnen Komponenten im Erdsystem, die besonders sensibel schon auf kleine Veränderungen reagieren und bei Überschreiten eines Schwellenwerts abrupt in einem ganz neuen Zustand wechseln können – ähnlich einem Kippschalter.
Vergleichbar ist das Verhalten der Kippelemente mit einer Murmel, die in einer Senke am Berghang liegt. Solange sie nur ein wenig verschoben wird, rollt sie immer wieder in diese Senke zurück – das Gleichgewicht pendelt sich wieder ein. Doch wird diese Murmel über den Rand der Senke geschoben, rollt sie weiter den Berg hinab, bis sie in einer tiefer gelegenen Senke liegen bleibt. Sie hat damit einen neuen stabilen Gleichgewichtszustand erreicht – aber einen deutlich anderen als zuvor.
Regionale Elemente mit globalen Folgen
Klimaforscher haben bisher neun globale Kippelemente und sieben weitere mit regionaler Bedeutung identifiziert. Zu den globalen Stellgliedern gehören unter anderem die Eisschilde Grönlands und der Antarktis, der Amazonasregenwald, die Nordatlantische Umwälzströmung (AMOC), das arktische Meereis, der Permafrost und die tropischen Korallenriffe. Beispiele für regionale Kippelemente sind der Monsun, die Berggletscher und boreale Wälder.
Wenn einer oder mehrere dieser Stellglieder im Klimasystem in einen neuen Zustand übergehen, dann kann dies globale Auswirkungen auf das Klima und unsere Umwelt haben. Denn über Rückkopplungen beeinflussen diese Systeme auch viele andere Faktoren im irdischen System. Wen beispielsweise der westantarktische Eisschild abtaut, dann könnte dies zum einen Meeresspiegelanstieg von drei bis fünf Metern nach sich ziehen. Zum anderen wird die Erdoberfläche durch das fehlende Eis in diesem Gebiet dunkler – und kann sich noch weiter aufheizen.
Umkehrbar oder nicht?
Bei einigen Kippelementen wäre ein Umkippen in einen neuen Zustand nahezu irreversibel: Einmal angestoßen, läuft die Veränderung auch dann noch weiter ab, wenn sich das Klima in der Zwischenzeit wieder ändert. Das ist vor allem dann der Fall, wenn positive Rückkopplungen den Umkippprozess zusätzlich fördern und zum "Selbstläufer" machen.
Dies könnte beispielsweise beim Amazonas-Regenwald der Fall sein: Er verdankt seine Existenz den reichlichen Niederschlägen im Amazonasgebiet, gleichzeitig transportieren die Bäume selbst enorme Mengen an Wasserdampf in die lokale Atmosphäre – und machen so ihren Regen gewissermaßen selbst. Wird der Baumbestand aber zu spärlich, bleibt dieser Wasserdampf-Nachschub in die Atmosphäre aus. Als Folge verändert sich das lokale Klima und es regnet immer seltener. Ist dieser Punkt einmal erreicht, könnte es selbst durch Aufforsten schwer werden, den Verlust des Regenwalds noch aufzuhalten.
Es gibt aber auch Kippelemente, die reversibel sind. Dazu gehört beispielsweise das arktische Sommer-Meereis: Wenn die Erwärmung in der Zukunft wieder nachlässt, wird sich das Meereis auch wieder erholen.
Wie schnell geht das Umkippen?
Wie lange es dauert, bis die Folgen eines Umkippens spürbar werden, hängt dabei von der Art des Kippelements ab: Einige, wie das Verschwinden des Amazonas-Regenwalds oder der Kollaps der Atlantischen Umwälzströmung, könnten sich in nur wenigen Jahrzehnten manifestieren. Andere Prozesse, wie das Tauen des Permafrosts oder das Abschmelzen der großen Eisschilde, können Jahrhunderte dauern.
"Laut einer aktuellen Meta-Studie haben die meisten zurzeit diskutierten Kippelemente nicht das Potenzial, das Klima abrupt, innerhalb nur weniger Jahre, zu ändern", sagt Claußen. " Bei den Kippelementen mit der vermutlich größten Wirkung auf die menschliche Gesellschaft – den schmelzenden Inlandeismassen in Grönland und der Antarktis – dauert das Kippen eher Jahrhunderte oder Jahrtausende.“
Wann sind die Kipppunkte erreicht?
Schon länger gibt es für einige Kippelemente Hinweise darauf, dass sie sich ihrem Kipppunkt nähern. Wann genau es aber soweit ist und wie lange es dann tatsächlich dauert, bis sich das System in einem neuen Zustand eingependelt hat, ist bei den meisten Kippelementen noch unklar. Dies gilt beispielsweise für das Abschmelzen der Eismassen auf Grönland und der Antarktis: "Ab welcher globalen Erwärmung das Abschmelzen beginnt, können wir noch nicht verlässlich berechnen", erklärt Martin Claußen vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg.
Einigen Studien zufolge könnte beispielsweise ein Teil des westantarktischen Eisschilds schon jetzt den Kipppunkt erreicht haben – er würde demnach komplett abschmelzen, selbst wenn wir heute alle Treibhausemissionen stoppten. Andere sehen den Kipppunkt für das Eisschild dagegen noch nicht als erreicht an. "Die Abschätzungen reichen von ‚droht bereits jetzt zu beginnen‘ bis ‚erst bei drastischer globaler Erwärmung‘", erklärt Claußen. Beim Amazonas-Regenwald dagegen schätzen Experten, dass uns nur noch wenige Jahre bis Jahrzehnte bleiben, bis ein Kipppunkt erreicht ist – sofern der Waldverlust weitergeht wie bisher.
Verbogene Verknüpfungen und der Kaskadeneffekt
Und noch etwas erschwert die Vorhersage: „Viele Kippelemente im Erdsystem sind miteinander verknüpft“, erklärt Ricarda Winkelmann vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Das bedeutet, dass das Umkippen eines Stellglieds auch andere Kippelemente „mitreißen“ kann. Die Forscherin vergleicht dies mit einer Reihe von Dominosteinen: Wird einer von ihnen umgekippt, stößt er viele weitere um.
Ähnlich ist dies bei den durch Rückkopplungen und Wechselwirkungen miteinander verknüpften Kippelementen. Auch bei ihnen könnte das Umkippen eines Stellglieds einen Kaskadeneffekt nach sich ziehen, der auch andere Kippelemente mitreißt. Wenn beispielsweise das grönländische Eisschild weit genug abschmilzt, könnte dies die Nordatlantische Umwälzströmung zum Erliegen bringen - den "Motor" der globalen Meeresströmungen. Wenn jedoch diese Umwälzpumpe stockt oder ausfällt, könnte dies durch globale Strömungsänderungen das gesamte Klimasystem destabilisieren.
Diese Kopplung von Kippelementen kann Folgen sogar an entgegengesetzten Enden der Erde nach sich ziehen. So haben Wissenschaftler beispielsweise herausgefunden, dass der Zustand des Amazonasregenwalds eng mit dem der Gletscher in Tibet und mit dem Eis der Westantarktis verknüpft ist – beide liegen tausende Kilometer von Südamerika entfernt. Weil sie aber über großräumige Luftströmungen verbunden sind, beeinflussen sie sich gegenseitig.
Allerdings: Bisher sind viele dieser Fernverbindungen noch unerforscht. Außerdem ist noch unklar, wie groß die Gefahr eines weltumspannenden Kaskadeneffekts wirklich ist. Dennoch wären die Folgen für uns Menschen selbst bei "nur" regionalen Veränderungen schwerwiegend. „Es ist unwahrscheinlich, dass das Klimasystem als Ganzes kippt. Aber subkontinentale Kippereignisse können im Laufe der Zeit ganze Gesellschaften schwer treffen und wichtige Teile der Biosphäre bedrohen", erklärt Hans Joachim Schellnhuber vom PIK.