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Leonardo da Vincis vitruvianischer Mensch
Die Idee des vitruvianischen Menschen basiert darauf, dass der aufrecht stehende Mensch sich sowohl in die Geometrie eines Quadrates, als auch in die eines Kreises einfügen kann. Sie stammt von dem römischen Architekten, Ingenieur und Namensgeber Vitruv, der sie bereits im 1. Jhr. vor Christus schriftlich festhielt.
Vitruvs Idee von den menschlichen Körpermaßen
In seinem Hauptwerk Zehn Bücher über Architektur (De architectura libri decem), der ersten umfassenden Behandlung antiker Techniken wie beispielsweise Städtebau, Materialienkunde oder Wasserversorgung, formulierte Vitruv auch die Lehre des wohl geformten Körpers (homo bene figuratus).
Dieser Lehre liegt die Annahme zugrunde, dass die griechische Maßeinheit, das sogenannte Klafter (gr: orguia), – also das Maß von der Fingerspitze des ausgestreckten Armes eines erwachsenen Mannes bis zur Fingerspitze des anderen Armes – exakt so lang ist wie seine Größe von Kopf bis Fuß. Das Klafter konnte wiederum in kleinere, gleich große Längenabstände unterteilt werden.
Vitruv setzte in seinem System folgende Längen zueinander in Beziehung:
1 Elle = 1/4 der Gesamtgröße (des Klafters)
1 Fuß = 1/6 der Gesamtgröße (des Klafters)
1 Handspanne = 1/8 der Gesamtgröße (des Klafters)
1 Handbreite = 1/24 der Gesamtgröße (des Klafters)
1 Fingerbreite = 1/96 der Gesamtgröße (des Klafters)
Diese Unterteilungen entsprechen dem „duodecimalen System“, einem System, das stets mit einem geraden Nenner der Beziehungsgrößen arbeitet, welcher auf der Zahl zwölf basiert. Dieses antike metrologische System war solange im allgemeinen Gebrauch, bis es im 19. Jahrhundert von der Einführung des Meters verdrängt wurde, der dagegen die Zahl zehn als Basis hat.
Größere Bekanntheit erlangte Vitruvs Werk, und damit seine Idee über die menschlichen Körpermaße, allerdings erst in späterer Zeit; nämlich erstmals wieder in der Renaissance. Eine neue Stilrichtung in der Architektur nahm sich im 15. Und 16. Jahrhundert in Italien die Antike zum Vorbild und griff dafür auch auf Vitruv zurück, in dessen zehn Büchern alle Grundlagen der römischen Architektur beschrieben waren.
Da Vitruvs Werk allerdings nicht illustriert war und seine theoretischen Erläuterungen umständlich beschrieben, fertigte man Zeichnungen zu seinen Ideen an. So konnte man sich die Bauten der Antike veranschaulichen und die Erläuterungen aus Vitruvs zehn Büchern besser verstehen und umsetzen.
Vitruvs geometrische Beschreibungen des menschlichen Körpers weckten auch das Interesse des damals in Mailand arbeitenden Malers und Bildhauers Leonardo da Vinci.
Leonardo und die Anatomie des Menschen
Leonardo legte sein Interessengebiet bereits in seiner Lehrzeit auf die Anatomie des Menschen. In seinen Mal- und Skizzenbüchern befinden sich tausende detaillierte Studien menschlicher Gliedmaßen und ihrer Proportionen. Oft sind es nur flüchtig wirkende Ausschnitte des menschlichen Körpers aus verschiedenen Perspektiven.
„Der vitruvianische Mensch“ dagegen ist eine für Leonardos Verhältnisse ungewöhnlich sauber gezeichnete Körperstudie und entstand wohl gegen Ende seiner intensiven Auseinandersetzung mit der menschlichen Anatomie, vermutlich im Jahr 1490 n. Chr.
Leonardo löste mit dieser Zeichnung erstmals anatomisch nachvollziehbar das Problem, die Figur sowohl in ein Quadrat als auch in einen Kreis zu platzieren, indem er den Mittelpunkt des Quadrates nach unten verschob, während der Kreis, wie von Vitruv angegeben, weiterhin vom Bauchnabel als Mittelpunkt ausging.
Leonardos zahlreiche eigene Studien zu Proportionsmaßen zeigten ihm aber auch, dass er nicht in allen Punkten mit Vitruvs Idee übereinstimmen konnte. Seine empirischen Erfahrungen widersprachen den Vereinfachungen, die Vitruv, aufgrund des metrologischen Systems mit nur geraden Nenneroptionen, getroffen hatte.
So wandelte Leonardo in seiner Zeichnung die Länge des Fußes ab, von 1/6 auf nur noch 1/7 der Gesamtgröße. Im Text – der übrigens, wie bei Leonardo üblich, von rechts nach links in Spiegelschrift zu lesen ist – sowie in der angegebenen Maßskala, hat er Vitruvs Vorgaben jedoch übertragen.
Dass dieses Blatt so scharf und sauber gezeichnet ist, mag daran liegen, dass Leonardo hier eben nur das Konzept eines anderen illustrierte. Möglicherweise sollte es auch die Vorlage für eine Vervielfältigung werden. Leonardos eigene anatomische Studien sind dagegen hauptsächlich als grobe Skizzen festgehalten und fast scheint es, als wäre es ihm schwergefallen, seine eigenen Beobachtungen in ein definitives verständliches Konzept zu übertragen. Möglicherweise deswegen, weil er durch seine praktischen Beobachtungen ahnte, dass ein einheitliches Konzept niemals einer allgemein gültigen Wahrheit entsprechen würde.