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Lesenlernen fängt nicht erst in der Schule an

Die sechsjährige Paula geht seit fünf Wochen in die erste Klasse einer Grundschule in Nordrhein-Westfalen. Sie kann nach dieser Zeit bereits ihre ersten Wörter lesen. Der fast achtjährige Tom geht seit Schuljahresbeginn in die zweite Klasse einer Hamburger Grundschule und zieht beim Lesen noch immer mühsam die Silben zu Wörtern zusammen. Am Ende des Satzes weiß er nicht, was dieser ihm eigentlich sagen wollte. Der sogenannte Schrift-Spracherwerb verläuft bei Grundschulkindern in ganz unterschiedlichem Tempo.
von wissen.de-Autorin Sandra Hermes

Grundschülerin an der Tafel
shutterstock.com/Tomasz Trojanowski

Warum das so ist? Um diese Frage zu beantworten, da sind sich die Experten für Erstlesedidaktik weitgehend einig, müsse man einen Blick zurück werfen. Denn das Lesen- und Schreibenlernen beginnt lange vor dem Erlesen erster Wörter. Hat ein Kind in seiner Entwicklung im Säuglings- und Kleinkindalter ein grundlegendes Symbolverständnis erworben, so die Hamburger Professorin für Grundschulpädagogik Claudia Osburg, könne es später auch begreifen, dass Buchstaben Symbole für Sprache sind. Für Kinder ohne diese Fertigkeit ist Lesen- und Schreibenlernen zwar möglich, aber sehr mühsam.

Doch nicht nur fehlende kognitive Fähigkeiten können einem Kind das Lesen- und Schreibenlernen zur Qual machen. Häufig, so Osburg, fehle betroffenen Kindern schlicht und ergreifend ein ausreichender Wortschatz. So ist der Satz „Der Strauß lebt in der Sahara“ für einige Leseanfänger deshalb so schwer zu lesen, weil sie den Sinn der Wörter in diesem Zusammenhang nicht kennen. Die Lesetechnik, also das Zusammenziehen der Buchstaben zu Wörtern und der Wörter zu Sätzen, kann schon vorhanden sein. Sie hilft aber denjenigen Kindern nicht, die noch nie gehört haben, dass der „Strauß“ nicht nur ein Blumengebinde, sondern auch ein Vogel aus Afrika ist, und die auch noch nie von einem Ort namens "Sahara" gehört haben.

Lesen muss Sinn machen

„Lesen ist Sinnerwartung“, so Osburg. Wird diese Erwartung besonders bei Erstlesern, in deren Familien es keine Bücher gibt, immer wieder enttäuscht, sei die Motivation schnell dahin. Leseförderung, davon ist auch die Grundschullehrerin Christina Prinz überzeugt, beginnt beim Vorlesen zu Hause und dem Einsatz von Büchern im Kindergarten. Nur wenn Kinder Bücher als einen wichtigen Teil ihres Alltags kennen lernen, wenn sie Geschichten vorgelesen bekommen, sich gemeinsam mit Erwachsenen Bilderbücher anschauen und gelobt werden, wenn sie im Vorschulalter bereits stolz ihren Namen zu Papier bringen können, werden aus Kindern Leser, ist sich die Pädagogin sicher.

Das Bestreben der aktuellen Bildungspolitik, möglichst viele Kinder möglichst früh in Krippe und Kita zu fördern, ist vor diesem Hintergrund sinnvoll. Kinder aus Familien, die ihrem Nachwuchs keinen vielfältigen Wortschatz und keine Buchkultur nahebringen können, werden von einer qualitativ hochwertigen Betreuung besonders profitieren. Voraussetzung ist, dass die frühe Sprach- und damit Leseförderung in engagierten, personell ausreichend ausgestatteten Betreuungseinrichtungen stattfindet. Das ist leider heute noch keine Selbstverständlichkeit: „Wir können in der ersten Klasse sehr gut sehen, aus welchem Kindergarten die Schulanfänger kommen“, so Prinz. „Die Vorkenntnisse sind je nach besuchtem Kindergarten sehr unterschiedlich.“

Ein Unterricht, der alle anspricht

Genau diese Differenz ist die Herausforderung, mit der Lehrer und Lehrerinnen täglich zu kämpfen haben. Sie müssen einen Unterricht gestalten, der die Schwachen fördert und der diejenigen nicht langweilt, die schon mit ersten Leseerfahrungen eingeschult werden. In der Vergangenheit hat es viele Diskussionen gegeben, welche Leselernmethode nun die heilbringende ist. Der klassische Fibel-Unterricht, bei dem die Klasse nach einem Lehrbuch gemeinsam einen Buchstaben nach dem anderen lernte, ist mittlerweile ebenso passé wie das Konzept „Lesen durch Schreiben“ in seiner Reinform. Die Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schreiben (DGLS), ein Verband von Pädagogen und Sprachwissenschaftlern, sieht den Spracherfahrungsansatz als beste Alternative. Die Arbeit mit einer Anlauttabelle, bei der jedem Laut ein Beispielwort zugeordnet ist (Maus für M, Auto für Au etc.), wird bei dieser Methode durch individuelle Aufgaben ergänzt, die sich an den Spracherfahrungen der betreffenden Kinder orientieren. Davon, so Osburg, profitieren nicht nur die Kinder, sondern auch die Lehrenden.

Mit allen Sinnen lernen

Ob daraus dann ein spannender Unterricht wird und die Mehrheit der Kinder am Ende der zweiten Klasse laut Forderung der Lehrpläne Lesen und Schreiben kann, hänge, so Osburg nach wie vor stark von der Lehrerin oder dem Lehrer ab. Die Ausgestaltung des Unterrichts und das Angebot an zusätzlichen Materialien sind von Schule zu Schule, und häufig sogar von Klasse zu Klasse, sehr unterschiedlich. Besonders lernschwache Kinder, so die Hamburger Montessori-Pädagogin Silvana Großmann, könnten von den Deutsch-Materialien nach der Pädagogik von Maria Montessori profitieren. Neben Hör- und Sehsinn finden die Kinder dabei auch über den Tastsinn einen Zugang zu Buchstaben als Sprachsymbolen. Buchstaben aus Sandpapier, die man mit den Fingern nachfahren muss, oder ein bewegliches Alphabet aus Holzbuchstaben helfen, die Grundlagen des Schriftspracherwerbs zu festigen. "So gelangen die Kinder durch das Hantieren mit den Materialien vom Greifen zum Begreifen", erklärt Großmann.

Schrift in den Alltag integrieren

Und was, so fragen sich Eltern leseschwacher Kindern häufig, wenn mein Kind gar nicht Lesen- und Schreibenlernen kann? Was, wenn es Legastheniker ist?  „Die Diagnose Legasthenie“, so ist Claudia Osburg überzeugt, „hilft im Grunde keinem Kind beim Lesenlernen“. Sie könne sogar im Gegenteil den Effekt haben, dass das Kind für sich und seine Umgebung eine Entschuldigung an die Hand bekommt: „Ich bin krank. Ich kann das gar nicht lernen“. „Die Forschung hat bis heute keinen verlässlichen Beweis dafür erbringen können, dass Legasthenie als Krankheitsbild existiert“, gibt Osburg zu bedenken. Die Fehler, die ein „Legastheniker“ macht, seien im Grunde dieselben, die auch andere Kinder machen. Eine Spiegelung der Buchstaben b und d sei z.B. beim ersten Schreiben ganz häufig zu beobachten, da die beiden Gehirnhälften noch nicht angemessen korrespondieren.

Welches Etikett man dem Probleme verpasst, ist letztlich zweitrangig. Wichtig zu wissen sei, so Osburg, dass die Förderung für Kinder, die auf Legasthenie getestet wurden, und für solche die „nur“ als langsame Leser und Schreiber gelten, ganz ähnlich sein sollte. Es gilt, das Kind auch abseits der Schule auf vielfältige Weise mit Schrift in Kontakt zu bringen. „Lassen Sie das Kind den Einkaufszettel schreiben und bestätigen Sie es auch, wenn es, statt Smarties zu schreiben, Smarties malt.“ Auch dies zeige, so die Grund- und Sonderschulpädagogin, dass es die Funktion von Zeichen als beständigem Symbol erkannt habe. „Lassen Sie das Kind Hörbücher hören, lesen Sie vor, machen Sie Ratespiele mit Wörtern, reimen und singen Sie.“

Lesenüben kann auch demotivieren

Auch die Grundschullehrerin Christina Prinz gibt Eltern von kleinen Lesemuffeln den Tipp, ihr Kind nicht zu sehr unter Druck zu setzen. Kinder, die abends regelmäßig zehn Minuten lesen müssen, obwohl sie dazu keine Lust haben, verlieren den Spaß an Büchern vielleicht völlig, gibt die Praktikerin zu bedenken. Lesemotivation lasse sich langfristig eher wecken, wenn man auch Grundschulkindern regelmäßig ihre Lieblingsbücher vorliest, sie mit in die Bücherei nimmt oder sie am Computer Lernspiele ausprobieren lässt.

Dabei sollte man den Kindern unbedingt zugestehen, was man auch für sich selbst in Anspruch nimmt: Gerne liest man nur etwas über Themen, die einen wirklich interessieren. Wenn also Tom abends lieber ein Sachbuch über die Geschichte des Autos vorgelesen bekommen möchte, sollte Mama ihre Bullerbü-Geschichten einfach ohne Kommentar wieder ins Regal stellen. Wer weiß, vielleicht findet der kleine Lesemuffel die Geschichte über den Otto-Motor so spannend, dass er in naher Zukunft selbst lesen will, wie der Katalysator erfunden wurde.

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