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Milchstraße – Heimatgalaxie mit Überraschungen

Obwohl die Milchstraße unsere Heimatgalaxie ist, kennen wir sie eigentlich kaum. Denn von unserer Position in ihrem Inneren bleibt uns ihre Gesamtform verborgen. Und auch innerhalb unserer Galaxie behindern Sterne und Staubwolken die Sicht. Kein Wunder daher, dass Astronomen in den letzten Jahren einige völlig neue Strukturen in der Milchstraße entdeckt haben.
NPO, 06.03.2020

Die Milchstraße von oben

NASA/JPL-Caltech/ESO/R. Hurt

Milliarden Sterne und Planeten, gigantische Gaswolken und reichlich Dunkle Materie: Die Milchstraße ist von einer Vielzahl kosmischer Objekte und Phänomene erfüllt. Aus ihrer Beobachtung haben Astronomen entscheidende Erkenntnisse über die Geburt und den Tod von Sternen, über Exoplaneten oder das Umfeld Schwarzer Löcher gewonnen. Doch wenn es um die Galaxie im Ganzen geht, klaffen in unserem Wissen noch viele Lücken. Astronomen wissen teilweise mehr über die Form und Struktur fremder Galaxien als über unsere eigene – und erleben deshalb immer wieder Überraschungen.

S-förmig verbogen statt eben

Die erste Überraschung: Jahrhundertelang glaubten Astronomen, dass die Hauptebene der Milchstraße eine flache Scheibe bildet – ähnlich wie die Andromedagalaxie und andere Spiralgalaxien in unserer komischen Nachbarschaft. Bei der Milchstraße weiß man, dass diese Hauptebene einen Großteil der rund 100 bis 300 Milliarden Sterne enthält und von vier Spiralarmen durchzogen ist.

Doch Anfang 2019 enthüllten Daten des europäischen Gaia-Weltraumteleskops, dass die Milchstraße offenbar weniger eben und gerade ist als lange gedacht. Stattdessen deutet die Position vieler veränderlicher Sterne darauf hin, dass unsere Galaxie verbeult ist: Einige Teile ihrer Hauptebene sind nach oben gebogen, andere nach unten. Würde man sie von der Seite betrachten, ähnelte die Milchstraße dadurch einem leicht gewellten „S“.

Vor kurzem dann enthüllte eine weitere Analyse der Gaia-Daten, dass sich diese Wölbung sogar bewegt: Sie eiert um das Galaxienzentrum herum und tut dies unabhängig von der Rotation der Spiralarme und Sterne. Für einen Umlauf benötigen diese Auf- und Abwölbungen dabei 600 bis 700 Millionen Jahre – das ist etwa dreimal so lange wie die Sonne für eine Umkreisung des Milchstraßenzentrums benötigt. Wie die Wölbung unsere Galaxie zustande kam, ist bislang unklar. Astronomen vermuten aber, dass der Störeinfluss einer nahen Zwerggalaxie zu dieser Verformung des Galaxienrands führte.

Von der Seite gesehen ist die Milchstraßen-Ebene s-förmig verformt.

D. Skowron / OGLE / Universität Warschau

Das wahre Wesen der Spiralarme

Auch die Spiralarme unserer Galaxie sind nicht das, was sie zu sein scheinen. Auf den ersten Blick handelt es sich bei ihnen um feste Gebilde, die sich mitsamt ihrer Gase, Sterne und Sternenwiegen um das Milchstraßenzentrum bewegen. Doch neueren Daten zufolge könnte es sich stattdessen um Dichtewellen handeln – gasreiche Zonen besonders intensiver Sternbildung, die unabhängig von den bestehenden Sternenpopulationen um das Galaxienzentrum kreisen. Die Spiralarme wandern gleichsam durch die Sterne hindurch.

Und auch unsere Sonne lag nicht immer in ihrer heutigen galaktischen Nachbarschaft, dem Orionarm. Denn ursprünglich ist sie gut 2.000 Lichtjahre näher am Zentrum der Milchstraße entstanden. Erst nachträglich wanderte sie an ihre heutige Position und umkreist das Galaxienzentrum nun in einem Abstand von rund 26.000 Lichtjahren.  Dabei bewegt sich unser Stern in Wellen durch die Milchstraßen-Scheibe hindurch und kreuzt sie alle 30 bis 45 Millionen Jahre. Zurzeit liegt unsere Sonne rund 65 Lichtjahre oberhalb der Hauptebene.

Die Gammastahlen aussendenden Fermi-Blasen ragen 25.000 Lichtjahre nach oben und unten aus der Milchstraßen-Ebene hinaus.

NASA/ GSFC

Gammastrahlenblasen und unsichtbare Schornsteine

Noch mehr Überraschungen aber hat die Milchstraße parat, wenn man sie im Röntgenlicht, in Gammastrahlen oder im Radiowellenbereich anschaut. Vor allem in ihrem Zentrum treten dann einige erstaunliche Strukturen zutage. Die größten davon sind zwei gigantische Blasen aus schnellen Gasen und Gammastrahlung. Diese unsichtbaren Gebilde ragen jeweils mehr als 25.000 Lichtjahre nach oben und unten aus der Galaxienebene heraus.

Diese riesigen Fermi-Blasen sind aber nicht allein:  Zwischen ihnen und dem galaktischen Zentrum gibt es zwei gewaltige Schornsteine – 500 Lichtjahre lange Zylinder aus heißem Plasma, die senkrecht auf dem Milchstraßenzentrum stehen und starke Röntgenstrahlung aussenden. „Wir vermuten, dass diese Schornsteine eine Art Abgasventile für die im Zentrum der Galaxie freigesetzte Energie sind“, berichtet Mark Morris von der University of California in Los Angeles.

Was diese energiereichen, von stark beschleunigten Gasen gefüllten Strukturen erschuf, ist bislang unklar. Astronomen vermuten jedoch, dass ein gewaltiger Ausbruch des supermassereichen Schwarzen Lochs im Zentrum unserer Galaxie diese Gebilde hinterließ. Denn wenn Gaswolken oder Sterne von diesem Schwerkraftgiganten verschlungen werden, setzt dies enorme Mengen an Energie und Strahlung frei. Glücklicherweise liegt der letzte große Ausbruch dieses Schwarzen Lochs schon rund zwei Millionen Jahre zurück – seither ist es vergleichsweise ruhig und inaktiv.

Vor acht bis zehn Milliarden Jahren kollidierte die Milchstraße mit einer Nachbargalaxie (Illustration).

V. Belokurov (Cambridge, UK), ESO / Juan Carlos Munoz

Extragalaktische Materie

Dass es in unserer Milchstraße nicht immer ruhig und gesittet zuging, belegt auch ein anderes Phänomen: In unserer Galaxie gibt es ganze Sternenströme, die ursprünglich zu einer unserer Nachbargalaxien gehörten. Die größere Schwerkraft der Milchstraße hat sie im Laufe der Zeit aus ihrer ursprünglichen Heimat herausgezogen. Sogar einige Zwerggalaxien der Milchstraße haben sich inzwischen als „eingemeindete“ Fremdlinge entpuppt.

Nimmt man Sterne, Galaxienreste und Gaswolken zusammen, besteht unsere Milchstraße sogar etwa zur Hälfte aus extragalaktischem Material, wie Astronomen ermittelt haben. Ein Großteil davon sind Atome, die mit intergalaktischen Winden in unsere Nachbarschaft geweht wurden. Auch wir selbst bestehen daher nicht nur aus Elementen, die ursprünglich im Kosmos entstanden – ein Teil unserer Atome könnte sogar von außerhalb unserer Galaxie stammen.