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Nur noch Computer statt Bäumeklettern? Warum das Naturerlebnis für Kinder so wichtig ist
Kühe sind lila und Enten sind gelb: Angeblich können Stadtkinder nicht mehr zwischen Werbung und Natur unterscheiden. Auch wenn diese These widerlegt wurde, viele Kinder bekommen bei Fragen wie „Wie viele Zitzen hat der Euter einer Kuh?“ oder „Welche Farbe hat ein Fuchs?“ schon Probleme. Mit Fragen über Vögel, Bäume oder Pilze braucht man es in der Regel gar nicht erst zu versuchen.
Erschreckend naturfern
Aber selbst wenn Kinder durch Filme oder Bücher theoretisches Wissen über die Natur haben – der unmittelbare Kontakt mit Wald, Wildtieren oder selbst Nutztieren fehlt oft. Früher hing man wie Affen an Ästen, baute Buden über Bächen oder schwang sich mit Lianen in den Fluss – heute sitzen Kinder vor Computern und haben Berge von Spielzeug.
Das bestätigt auch eine Emnid-Umfrage, die von der Deutschen Wildtier Stiftung in Auftrag geben wurde: Sie zeigt eine erschreckende Naturferne von Kindern zwischen vier und zwölf Jahren. So gaben fast die Hälfte der Kinder an, dass sie noch nie selbstständig auf einen Baum geklettert wären. Jedes fünfte Kind hat „nie oder fast nie“ ein frei lebendes Tier zu Gesicht bekommen – mal abgesehen von Tauben und anderen Stadtbewohnern.
Oft ist die Angst der Eltern schuld
Aber dass viele Kinder nicht mehr in der freien Natur spielen, hat oft gar nichts mit den Wünschen der Kleinen zu tun, sondern hat Wurzeln bei den Müttern und Vätern: „Einer der Gründe könnte die neue Ängstlichkeit der Eltern sein“, sagt Michael Miersch, Geschäftsführer des Forum Bildung Natur der Deutschen Wildtier Stiftung. Denn eine große Mehrheit der Mütter und Väter findet es gefährlich, ihr Kind im Wald spielen zu lassen.
Dies konnten die Forscher anhand einer einfachen Frage herausfinden: „Eine Mutter erlaubt ihrem zehnjährigen Sohn, mit einem Freund im Wald zu spielen. Die Mutter des Freundes ist dagegen. Sie findet, das ginge nur, wenn ein Erwachsener auf die Kinder aufpasst. Wer hat Ihrer Meinung nach Recht?“ Von gut tausend Eltern stimmte mehr als die Hälfte der ängstlichen Mutter zu.
Dabei zeigte die Umfrage auch, dass es starke Unterschiede je nach Alter der Eltern gab: „Auffallend ist, dass sich mit dem Alter der Befragten die Einstellung ändert“, betont Miersch. „Man kann sagen: Je jünger die Eltern sind, desto ängstlicher sind sie.“ Denn bei der Elterngeneration der über 50jährigen gaben 58 Prozent an, ihr Kind sei schon einmal alleine einen Baum hochgeklettert, hingegen konnten das nur 33 Prozent der unter 29jährigen mit „ja“ beantworten.
Defizite mit Folgen
Aber auch außerhalb des Elternhauses haben Kinder heute immer weniger Möglichkeit, die Natur zu erleben. Schulen in der Stadt sind zwischen Einkaufspassage und Hauptstraße gezwängt, schon ein Park auf dem Schulweg ist eher ein seltener Glücksfall. Und selbst in den Außenbezirken und Vororten bleibt von echter Natur kaum mehr als akkurat gemähte Rasenflächen und bestenfalls ein größerer Spielplatz übrig. „Das elementare Wissen über Wildtiere und Pflanzen vor unserer Haustür schwindet rasant“, sagt Miersch.
Das aber hat in mehrfacher Hinsicht negative Folgen, denn viele Studien belegen, dass Naturerfahrungen für die kindliche Entwicklung wichtig sind. Spielen im Wald, auf Wiesen und an Bächen fördert nicht nur die motorischen Fähigkeiten, sondern auch das Sprachvermögen, das Selbstbewusstsein und die soziale Kompetenz. „Unser Fazit steht fest: Kinder und Jugendliche brauchen mehr Naturerfahrungen“, sagt Miersch. Er sieht in der Naturbildung für Kinder und Jugendliche eine „gesellschaftliche Herausforderung“ und eine „dringende Notwendigkeit“.
Abhilfe Waldkindergarten?
Inzwischen aber versucht man dies zu ändern. Immer mehr Einrichtungen legen heute Wert auf Tage oder Wochen in der Natur. Besondern sticht dabei ein Konzept heraus, dass aus Schweden zu uns herübergekommen ist: Natur- und Waldkindergärten. In Deutschland können bereits über 1.000 solcher Projekte gezählt werden und es gibt außerdem 400 bis 500 Waldgruppen.
Aber wie sieht so ein Tag im Wald- und Wiesenkindergarten aus? Als erstes: Die Kinder sind draußen, rund um die Uhr, das ganze Jahr lang – auch im Winter. Denn hier gilt eindeutig: „Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur schlechte Kleidung.“ Gelernt wird mit tatkräftiger Unterstützung von Pädagogen direkt von den Tieren und Pflanzen in der Natur.
Und wo wird gegessen und geschlafen? Ebenfalls draußen, auf jeden Fall solange das Wetter einigermaßen mitspielt. Alle Kinder haben ihren kleinen Rucksack dabei, dann sucht man sich einfach irgendwo ein Plätzchen und verdrückt seine mitgebrachte Stulle. Mittagsschlaf wird dann auch schon mal in der Hängematte gemacht – schaukelnd zwischen den Bäumen mit dem Blick auf ein Kronendach aus Blättern und den vorbeiziehenden Wolken.
MAH, 20.05.2015