Es waren einmal zwei Brüderlein, die reisten durch die Lande und sammelten fleißig alte Sagen und Geschichten, die man sich in den Dörfern und Städten seit Generationen schon erzählte. Der Ältere ward Jacob geheißen, der Jüngere Wilhelm. Der Volksmund aber rief sie "die Gebrüder Grimm", denn sie waren stets gemeinsam anzutreffen.
Jacob und Wilhelm Grimm
Ganz so war es nicht – auch wenn wir es uns gerne so vorstellen. Sie hatten tatkräftige Helfer – heute würde man sie wohl "Außendienstmitarbeiter" nennen, die in ihrem Auftrag ausschwärmten und allerlei Erzählgut auflasen, während die Brüder ihre Schreibstube nur selten verließen. Der Fleiß, die Sorgfalt und die Akribie, mit der sie ein gemeinsames Leben lang das Zusammengetragene verwalteten, pflegten und für alle folgenden Generationen aufbereiteten, haben der Identität unserer Nation ein Profil gegeben: Jacob und Wilhelm Grimm schufen poetische, sprachwissenschaftliche und geistesgeschichtliche Grundlagen, an denen wir uns noch heute orientieren.
Von Zweien, die sich aufmachten, das Erzählen zu lernen
Vor mehr als 225 Jahren kam Wilhelm Grimm zur Welt – der Zweitälteste von insgesamt vier Geschwistern. Mit Jacob verband ihn von Beginn an – und bis zum Lebensende – ein besonders enges Band sowohl zwischenmenschlicher als auch beruflicher Natur. Ihr Lebenslauf scheint bis auf wenige Facetten deckungsgleich.
Jacob und Wilhelm mussten aufgrund der finanziell schwierigen Situation der Familie das Elternhaus in Hanau früh verlassen und kamen in die Obhut einer Tante in Kassel. Dort besuchten sie gemeinsam die Schule. Später dann schlugen beide den beruflichen Weg des Vaters ein und absolvierten das Studium der Rechtswissenschaften in Marburg. Paragraphen und lateinische Definitionen – märchenhaft war diese Lebensphase sicher nicht. Noch nicht!
Friedrich Carl von Savigny, preußischer Justizminister, zum damaligen Zeitpunkt allerdings noch im Amt des Juraprofessors, ließ sich eines Tages Seminararbeiten der Studenten Jacob und Wilhelm Grimm nach Hause bringen. Und dabei sollte Jacobs Blick haften bleiben an einem Buch mit dem Titel "Sammlung von Minneliedern aus dem schwäbischen Zeitpunkte". Des Mittelhochdeutschen zu dieser Zeit keineswegs mächtig, fasziniert es ihn dennoch so sehr, dass sein Werdegang sowie auch der seines jüngeren Bruders eine entscheidende Wendung nehmen sollte. Es war, als hätte jemand eine Pforte aufgestoßen. Und als der Professor die beiden jungen Männer dann noch einem befreundeten Dichter vorstellte, machten sie sich auf einen Weg, von dem sie nie wieder abkommen sollten. Dieser Dichter war Clemens Brentano. Häufig waren sie nun seine Gäste, diskutierten mit ihm und seiner Frau über die Kultur, die Poesie und das Liedgut der Deutschen.
1803, im selben Jahr als Wilhelm Grimm seinem Bruder nach Marburg folgte, um sein Studium aufzunehmen, starb Johann Gottfried Herder – Dichter, Übersetzer, Geschichts- und Kulturphilosoph. Herder war es, der den Gedanken gefasst und verfolgt hatte, die Quelle der deutschen Poesie und somit auch Kultur durch das Sammeln und Zurückverfolgen von Märchen- und Liedgut aufzuspüren. Clemens Brentano folgte Herders Pfad in Zusammenarbeit mit Achim von Arnim. Beide widmeten sich vor allem den Volksliedern und wollten Jacob und Wilhelm Grimm hinzu bitten, um das Projekt mit Märchen zu ergänzen. Zu einer gemeinschaftlichen Recherche aber sollte es nicht kommen, und so arbeiteten die Brüder bald an einer eigenen Ausgabe, sammelten Märchen und Sagen, dokumentierten die Inhalte und vereinheitlichten behutsam die Formen.
Großmutter, warum hast du so große Ohren?
Na, um den Geschichten besser lauschen zu können...
1812 erschien der erste Band der "Kinder- und Hausmärchen" – jenes epochale Werk, das den Gebrüdern Grimm zu Weltruhm verhelfen sollte, obwohl es nicht das einzige bleiben würde, das als einflussreich, ja sogar wegbereitend zu bewerten ist. Doch dazu später mehr. Noch bevor drei Jahre später der zweite Band folgte, wurde Grimms Märchensammlung in ganz Europa übersetzt. Von ähnlicher Popularität ist – wenn überhaupt – "Tausendundeine Nacht". Der Inbegriff des Märchens aber wuchs aus der Arbeit der beiden Brüder: "Dornröschen", "Hänsel und Grete", "Aschenputtel oder "Rotkäppchen" – all diese Figuren, all diese Geschichten gelten seither als die ursprüngliche Poesie und als urdeutsches Kulturgut. Urdeutsch? Die Vorbilder der eben genannten Beispiele stammen allesamt aus Frankreich. Und so mancher Überlieferungsweg lässt sich noch weiter zurückverfolgen bis in die Antike, nach Persien oder nach Indien.
Märchen kommen heimelig daher und sind zugleich unheimlich, Märchen sind einerseits naiv, andererseits subversiv, und sie sind rührend, tröstend und doch wieder grausam. Die Handlung ist drastisch, fantastisch, und trotzdem erkennen wir uns wieder. Es geht um Gut und Böse, um Gerechtigkeit und Moral. Das Schlechte ist zu überwinden – und dabei sind alle Mittel recht!
Das, was die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm leisteten, ist enorm – nicht nur hinsichtlich Zeit- und Arbeitsaufwand. Denn ihre Arbeit beschränkte sich nicht allein auf das Sammeln, Archivieren oder auch Übersetzen von Märchen, Sagen, Heldenliedern und Balladen. Erst durch eine aufwändige Bearbeitung erlangten die Märchen ihren eigentümlichen und vor allem einheitlichen Stil. Und das ist in erster Linie Wilhelms Verdienst, war er doch verantwortlich für die sprachliche Gestaltung des Erzählstoffs. Ab der zweiten Auflage betreute er das Werk allein und nahm noch einmal deutliche Änderungen vor. Aus oft farbloser Prosa der über Generationen weiter getragenen Geschichten schuf er bildhafte Poesie. Die uns heute so vertraut und "natürlich" erscheinende Märchensprache ist von ihm konstruiert, ebenso jene Volkstümlichkeit selbst. Er spickte den Text mit Alltagsweisheiten und mundartlichen Redewendungen. Er fügte romantische Motive hinzu wie den "rauschenden Wald" und eine "Wiese voll herrlich duftender Blüten". Er spielte mit Metaphern und schrieb: "...die jüngste war so schön, dass die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, sich verwunderte so oft sie ihr ins Gesicht schien", und er strapazierte hier und da den Diminutiv: "...ein weiß gedecktes Tischlein mit sieben kleinen Tellern, jedes Tellerlein mit seinem Löffelein, ferner sieben Messerlein und Gäblein, und sieben Becherlein". Parallel aber war er auch darum bemüht, die Kerngeschichte – in ihrem vermuteten Urzustand – davon zu befreien, was der eine oder andere Übermittler beigefügt haben mochte.
FSK 18 oder "Ach, wie gut, dass niemand weiß..."
Der Zensur zum Opfer fielen im Nachhinein auch deutlich erkennbare erotische Details: Der Überlieferung nach wirft die Prinzessin im Märchen "Der Froschkönig" das garstige Tier an die Wand. Oh Wunder, es verwandelt sich in einen Prinzen. Und siehe da, nackt ist er auch noch – landet in ihrem Bett, und weil er ihr gefällt, legt sie sich gleich mal dazu...
Auch Folgendes ist vielen von uns vertraut: "Ruckedigu, Blut ist im Schuh", nachdem sich die böse Stiefschwester scheibchenweise den Fuß verkleinert hat, um in Aschenputtels Pumps zu passen. Ähnlich albtraumanregend ist wohl auch die Vorstellung, wie die Ziegenmutter dem schlafenden Wolf den Wanst aufschneidet, um ihre Ziegenkinder wieder herauszuholen. Nicht auszudenken also, welcher Art jene Grausamkeiten gewesen sein mögen, die Wilhelm Grimm aus den Texten strich! Anfangs war das Märchenbuch jedoch gar nicht vorwiegend für Kinder gedacht. Nachdem die Kritik aber lauter wurde und sich dies letztendlich auch auf die Verkaufszahlen auswirkte, nahm Wilhelm Grimm eben genau diese Anpassungen vor.
Die Märchen der Gebrüder Grimm. Und ganz nebenbei: die Germanistik erfunden
Wilhelm Grimm war nicht nur Sammler von Märchen und Sagen, von altdeutschen und germanischen Dichtungen, er war Sprach- und Literaturwissenschaftler. In Zusammenarbeit mit seinem Bruder schrieb er die Grundlagenwerke der Germanistik: "Deutsche Sagen", "Deutsches Wörterbuch" in 16 Bänden und "Die deutsche Heldensage". Und ihr Verdienst ist nicht nur die Vereinheitlichung der deutschen Sprache sowie das Fundament unserer Philologie, sondern auch eines wichtigen Teils unserer nationalen Identität: die Ursprünge unserer Poesie und Geistesgeschichte.
Die Gebrüder Grimm arbeiteten in vielen der geistigen Zentren des Landes wie Berlin, Weimar oder Göttingen. Sie wechselten von der Rechtswissenschaft zur Sprach- und Literaturwissenschaft, sie lernten und lehrten. Beide waren tätig als Bibliothekare, Schriftsteller und Forscher. Beide waren Professoren und trugen Ehrendoktorwürden. Zwei Brüder – ein gemeinsames Leben.
Als Jungen schlafen sie im Elternhaus in einem Bett, als Studenten bewohnen sie in Marburg ein Zimmer. Auch nachdem Wilhelm längst eine Familie gegründet hat, leben sie weiterhin unter einem Dach. Und obendrein teilen sie ein Leben lang ein Arbeitszimmer. Aber das bedeutet nicht, dass sie in jeder Hinsicht gleicher Gesinnung waren. Jacob galt als pedantisch und zurückhaltend, Wilhelm als gesellig und poetisch veranlagt. Den sprachlichen Feinschliff, den er an den gesammelten Geschichten vornahm, hielt der ältere Bruder für unwissenschaftlich. Und dennoch waren sie unzertrennlich!
Zwar beteiligten sich beide neben weiteren fünf Göttinger Professoren an der Protestaktion – genannt "Göttinger Sieben" – gegen die eigenmächtige Verfassungsaufhebung durch Ernst August I, resolute Aktivisten auf der politischen Ebene aber waren sie nicht. Ebenso wenig wie nationalistischer Gesinnung! Ihre wissenschaftliche Sammlertätigkeit diente der zwar Herausarbeitung eines nationalen Profils – aber vor dem Hintergrund der allgemeinen Völkerverständigung. Sie diente der Aufarbeitung und Wahrung von Kulturgut, letztlich auch durch die Tatsache, dass es auch heute noch in vielen Familien die alten Sagen und Märchen sind, durch die die lauschenden Kinder behutsam an das Lesen herangeführt werden.
Und wenn sie nicht gestorben wären... So trügen sie noch heute zusammen, was Hans und Hänschen sich zur guten Nacht erzählen. Allerdings würden sie es wohl digital archivieren.
Tina Denecken, wissen.de-Redaktion