Bis zum 9. November 1989 symbolisierte die Berliner Mauer die grausame Teilung des deutschen Volkes. Doch bereits wenige Tage nach der Grenzöffnung begann man, sie zu zerkleinern und zu schreddern. Die Überreste, denen dieses prosaische Ende erspart blieb, haben 20 Jahre später jeden Schrecken verloren. Vielmehr werden Mauerbröckchen und ganze Mauerstelen als heißbegehrte Trophäen, als Symbole für Freiheit und Frieden gehandelt. Und zwar in der ganzen Welt. Folgen Sie uns auf der Suche nach der Mauer.
Eifrige Mauerspechte
Massive Betonplatten - stahlbewehrt oder im Plattenbau geschichtet - umschlossen West-Berlin auf über 100 km Länge ergänzt von 68 Kilometern Streckmetallzaun. Vor allem aber die Stahlbetonstelen der 42 Kilometer langen "Grenzmauer 75" haben es zu trauriger Berühmtheit gebracht. Mit ihren je 2,6 Tonnen Gewicht, 3,60 Meter Höhe, 1,20 Meter Breite und 2,10 Meter Tiefe am Fuß stellten sie ein unüberwindliches, ja tödliches Hindernis, dar, an dem eine Stadt in zwei Hälften zerbrach.
Die ersten, die den Respekt vor dem Betonmonster verloren, waren die vielen "Mauerspechte", die direkt nach dem 9. November 1989 dem eben noch scharf bewachten Betonwall mit Hammer und Meißel zu Leibe rückten. Ein Stück Weltgeschichte, das wusste man, würde man sich mit den Graffiti verzierten Betonbröckchen in die Wohnzimmerschrankwand stellen können. Wer nicht selbst handgreiflich wurde, der zahlte - in hartem Westgeld natürlich. Fünf bis 30 D-Mark verlangten die fliegenden Händler, die plötzlich an jeder Ecke auftauchten, für kleinere und größere Mauersouvenirs. Natürlich waren sie längst nicht die einzigen, die das Geschäft ihres Lebens witterten. Doch dazu später.
"Where is the wall?"
Wo ist sie denn nun, die Mauer? Immer wieder sei er das von hilflos dreinschauenden Touristen rund ums Brandenburger Tor gefragt worden, erzählt der Berliner Filmemacher Stefan Pannen. Bis Gründer der Produktionsfirma fernsehbüro beschloss, dieser Frage einmal selbst auf den Grund zu gehen. Antwort gibt nun der Film "Where is the wall?", den Arte am 19. Oktober um 23.30 Uhr und der WDR am 26. November um 23.45 Uhr ausstrahlen werden. Die Filmemacher begeben sich darin auf die Suche nach dem Verbleib der Mauerreste - und stoßen dabei auf die absurdesten Fundorte. Pannen berichtet: "Einer der skurrilsten Orte war eine Herrentoilette in Las Vegas, wo ein Stück Mauer um 90 Grad gedreht als Aufhängung für drei Pissoirs dient".
In Liebe entbrannt
Doch auch die Begegnung mit einer dem Objektsex frönenden Schwedin, die in Liebe zur Mauer entbrannt war und 1978 in einer feierlichen Zeremonie in Berlin das Objekt ihrer Begierde ehelichte, hat den Filmemacher beeindruckt. "Sie ist jetzt natürlich Witwe", stellt Pannen fest. In Nagasaki, Japan, hingegen stieß das fernsehbüro auf ein einzigartiges Mauerstück mit Tür. Insgesamt hat es nur fünf Türen in der 155 Kilometer langen Mauer rund um Berlin gegeben, nur die eine in Nagasaki ist heute noch erhalten.
Auf jedem Kontinent erinnert 20 Jahre nach dem Mauerfall eine Stele, ein Brocken oder ein Denkmal an die traurige Geschichte eines brutal getrennten Volkes im Herzen Europas - aber auch an die friedliche Überwindung dieser 28 Jahre währenden gewaltsamen Teilung. Doch im Grunde habe nur ein kleiner Teil der von der DDR-Propaganda als "antifaschistischer Schutzwall" betitelten Mauer in die entlegensten Ecken der Welt gelangen können. "Um die 90 Prozent der Mauer sind geschreddert und verbaut worden", schätzt Stefan Pannen, "so ist auch der Schotter unter der Autobahn zum Flughafen Schönefeld geschredderte Mauer." Ein schöner Gedanke, nicht wahr? Aus dem Beton der unüberwindbaren Grenze ist eine Straße zu einem Flughafen geworden, einem Ort, von dem aus die ganze Welt erreicht werden kann.
Der Wert der Mauer
Ursprünglich hatten die in der Mauer verbauten Stelen eine ganz andere und viel harmlosere Bestimmung: Sie waren als Begrenzung für Futtersilos gefertigt worden. Ein weiteres Kuriosum in der Geschichte der Mauer stellt der Kauf mehrerer Segmente nach dem Mauerfall dar. Ein Mecklenburgischer Landwirtschaftsbetrieb erwarb sie für den Bau von - Futtersilos. Und somit erfüllte die Mauer endlich ihren ursprünglichen Zweck, wenn auch nur für kurze Zeit: Als der Besitzer den eigentlichen Wert der verbauten Betonteile erkannt hatte, ließ er sie kurzerhand demontieren und nachträglich mit Graffiti bemalen. Heute werden sie für mehrere tausend Euro auf Auktionen versteigert.
Nachzulesen ist diese Anekdote übrigens in dem druckfrischen Buch "Die Berliner Mauer in der Welt", das Anna Kaminsky im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgegeben hat. Das mit beeindruckenden Mauerbildern aus der ganzen Welt illlustrierte Buch schildert unter anderem, wie aus dem verhassten Bauwerk, dem Symbol schlechthin für menschenverachtende Unterdrückung, in kürzester Zeit ein Hoffnungsträger wurden - vor allem in finanzieller Hinsicht!
Von Gewinnern und Verlierern
Nach dem Angebot eines geschäftstüchtigen Bayern vom 10. November 1989 an das Außenhandelsministerium der DDR, "nicht benötigte Teile Ihrer Grenzsicherung" gegen Devisen zu kaufen, erreichte eine Anfrage nach der anderen die DDR-Botschaften in den USA und Großbritannien. Und während ein West-Berliner Unternehmer dem Grenzkommando Mitte auf dem Potsdamer Platz läppische 500 Mark für die ausgebauten Mauersegmente anbot, versuchten andere gar, die wertvollen Betonteile zu stehlen. Offerten in Höhe von 500.000 Dollar jedoch bewegten die DDR-Regierung unter Hans Modrow im Dezember 1989 schließlich dazu, den Verkauf der Mauerreste zu erlauben. Die Löcher in der Mauer sollten helfen, die Löcher im Staatshaushalt zu stopfen.
Tatsächlich erzielte man anfangs Gewinne im sechsstelligen Bereich. Die Auktionen der eigens gegründeten Verkaufagentur "LéLé Berlin Wall" brachten sogar Summen in Millionenhöhe ein. So ging ein Mauerteil für 170.000 DMark an den französischen Cognac-Hersteller Hennesy. Ein Schweizer Unternehmer ließ sich zwei Segmente gar 1,3 Millionen Francs kosten.
Auch heute, exakt 20 Jahre nach dem Mauerfall, können noch große Mauerteile ersteigert werden, verrät Stefan Pannen, und zwar deutlich günstiger als damals. Während anfangs im Schnitt 40 bis 50.000 Mark geboten wurden, reichten heute schon 1000 Euro aus. Und wer sich mit einem kleineren Mauerbröckchen begnügt, wird in einem der Berliner Souvenirläden fündig. Zum 20-Jährigen rechnen die Händler wieder mit steigender Nachfrage und guten Umsätzen. Die DDR-Regierung hingegen musste schnell feststellen: Für sie war mit der Mauer kein Geschäft zu machen, viel zu deutlich überstiegen die Abrisskosten die Erlöse durch den Ausverkauf der Berliner Mauer.