Heute blicken wir unter die Oberfläche. Nein, nicht unter die Wasseroberfläche. Das kann ja jeder. Begleiten Sie uns vielmehr auf einer Forschungsreise unter die Erde. Steigen Sie mit uns hinab in das Erdreich. Was man dort unten finden kann, außer Maulwürfen und Regenwürmern? Sie werden staunen!
Wussten Sie, dass man alleine in Bayern bislang rund 700 unterirdische, von Menschen angelegte Gänge gefunden hat? Und zahlreiche weitere in Österreich, in Ungarn, Frankreich und Spanien? Sie wurden nach einem bestimmten Prinzip gebaut, teilen die gleichen charakteristischen Merkmale und sind in der Regel 20 bis 50 Meter lang. Wie man sie nennt? Experten sprechen von „Erdställen“. Sie vermuten noch unzählige dieser Gänge unter der Erdoberfläche. Unentdeckt und unzugänglich.
Warum ist diese Tatsache so spektakulär?
Laut Untersuchungen stammen die Gänge aus dem früheren Mittelalter – es konnte aber noch kein einziges Dokument aus dieser Zeit gefunden werden, das sie erwähnt. Der bayerische Freistaat, von einem aufwändigen unterirdischen Labyrinth aus Gängen durchzogen, – und niemand, der davon gewusst haben will?
Vieles ist rätselhaft: Wer hat die Erdställe gebaut? Und wie? Wo finden sich weitere Erdställe und vor allem – warum sind sie entstanden? Die Erdställe selbst geben wenig von ihren Geheimnissen preis. Wer sich bislang durch einen Schlund gezwängt und sich wie ein Maulwurf den Gang entlang geschlängelt hat, fand dort meistens eins vor: Gähnende Leere.
Häufig sind es Mitglieder vom „Arbeitskreis für Erdstallforschung“, die Erkundungen vornehmen. Ehrenamtlich, versteht sich. Behörden, die Wissenschaft oder auch die Medien fangen gerade erst an, sich für die Gangsysteme zu interessieren. Der „Arbeitskreis für Erdstallforschung“ besteht inzwischen aus etwa 250 Mitgliedern, unter ihnen Höhlenforscher, Geologen, Ingenieure und Anthropologen.
Wir haben Peter Forster getroffen. Seines Zeichens Erdstallforscher und seit rund 20 Jahren Mitglied im Arbeitskreis. Mit rotem Schutzanzug und Helm ausgestattet, hat er hauptsächlich in Deutschland, aber auch in Ungarn, Österreich und Frankreich Erdställe besucht und erforscht. Häufig im Kriechgang. An ihren engsten Stellen, den so genannten Schlupfen, sind die Erdställe gerade einmal 40 cm hoch.
Wie die Forscher auf die Erdställe aufmerksam geworden sind, verrät uns Peter Forster im wissen.de-Interview.
Die Frage nach dem Wann
Was haben die Recherchen bislang ergeben?
In einigen wenigen Erdställen wurde tatsächlich organisches Material gefunden, das während der Bauphase eingebracht wurde. Holzkohleteilchen aus dem Erdstall Höcherlmühle in Bayern konnten mit der Carbon 14 Methode auf die Zeit 950 – 1050 nach Christus datiert werden. Weitere Funde weisen in dieselbe Zeit.
Die meisten Gegenstände aus Erdställen stammen, laut Peter Forster, jedoch aus einem späteren Jahrhundert.
Das heißt, einige Erdställe wurden noch einmal geöffnet - und anschließend wieder verschüttet.
Wie erklärten sich die Menschen damals die Existenz dieser mysteriösen Gänge?
In ihren Deutungen wurden die als „Schrazelloch“, „Erdweiblschlurf“ oder „Alraunenhöhle“ bezeichneten Gänge wahlweise von Wichtelmännern erbaut und von Erdgeistern oder Kobolden bewohnt.
Manche glaubten auch, Druiden hätten sie erschaffen. Sagen berichten von Fluchtwegen. Und der ein oder andere hoffte gar, in den Gängen wertvolle Schätze zu finden - vergeblich. Und doch liefern die Sagen noch heute wichtige Anhaltspunkte dafür, wo sich ein Erdstall befinden könnte.
Aber wie wurden die Erdställe überhaupt gebaut? Welche Merkmale zeichnen einen Erdstall aus?
Bei näherer Betrachtung wird schnell klar, dass echte Experten mit bergmännischem Wissen am Werk waren.
Die Gänge sind schlangenlinienförmig gebaut, um den Erddruck zu verringern. In der Fachsprache spricht man von einer „irrationalen Bauweise“. Ihre Erbauer haben sich kniend mit Keilhauern voran gewühlt. Es finden sich zahlreiche Nischen für Öllampen an den Wänden. Peter Forster beschreibt die charakteristische Bauweise von Erdställen.
Die Frage nach dem Wo
Und wo finden sich Erdställe?
In erster Linie dort, wo man nach ihnen sucht. Das heißt, bislang hauptsächlich in Bayern und Österreich. Auch in Irland, Schottland, Frankreich, Spanien und Ungarn treten Erdställe gehäuft auf.
Viele Erdställe gehen von früheren Siedlungsplätzen ab. In alten Bauernhäusern wurden Eingänge gefunden, ebenso in Kirchen und unter Friedhöfen. Beim Bau der Kanalisation werden sie häufig angeschnitten. Beim Ausheben eines Kellers stößt man auf Erdställe. Oder wenn plötzlich eine Kuh oder ein Traktor auf einer Wiese einbrechen.
Die Frage nach dem Warum
Warum wurden die Erdställe gebaut?
Die Frage nach dem Warum ist wie so oft am schwierigsten zu beantworten. Auch die Mitglieder des Arbeitskreises sind sich da nicht einig. Es haben sich vor allem zwei Theorien durchgesetzt: Die Zufluchtstheorie und die Kulttheorie.
Der Zufluchtstheorie zufolge waren die Erdställe Verstecke. Schutzbunker also, die gegen Plünderer aufgesucht wurden.
Dass die sauerstoffarmen und stellenweise sehr engen Gänge wirklich für diesen Zweck geeignet waren, bezweifeln viele. Und überhaupt: Wenn sich tatsächlich Menschen dicht gedrängt darin versteckt hätten – hätten diese Menschen dann nicht mehr Spuren hinterlassen?
Die Anhänger der Kulttheorie glauben deshalb, dass die Erdställe ursprünglich für Bewohner gebaut wurden, die per se keine Spuren hinterlassen: Und zwar für die Seelen kürzlich Verstorbener.
Seelen, die es sich so lange in den Erdställen bequem machen, bis sie die weitere Reise gen Himmel oder Hölle antreten?
Laut Peter Forster, selbst Anhänger der Kulttheorie, spricht einiges für diese Annahme.
Wie kann man sich das genau vorstellen?
Hat die Kirche Dokumente, die auf die Existenz von Erdställen hinweisen, also gezielt vernichten lassen?
Eins ist jedenfalls sicher:
Laut Peter Forster sind Erdställe Räume, in denen sich Seele noch heute wohl fühlen. Wie würde er die Atmosphäre in einem Erdstall beschreiben?
Und wer weiß, vielleicht finden sich irgendwann doch noch Dokumente, die das Geheimnis um die Existenz der dunklen Erdställe weiter erhellen?
Lena Schilder, wissen.de-Redaktion