„Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen“ – mit diesen eindringlichen Worten kündigt der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow im Januar 1987 in Moskau eine Beschleunigung seiner Reformpolitik an. Das Ausland steht dem Reformprozess abwartend gegenüber. Nach Jahrzehnten des Kalten Kriegs fällt es vielen westlichen Politikern schwer, an eine echte Demokratisierung der UdSSR zu glauben. Die DDR-Führung, bislang ein treuer Vasall Moskaus, hält nichts von einer Übernahme der Perestroika. Die Bundesrepublik versucht, sich mit den deutsch-deutschen Realitäten zu arrangieren. Bundeskanzler Helmut Kohl verhilft der DDR zu einem Prestigegewinn, indem er im September den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker mit militärischen Ehren in Bonn zu einem offiziellen Besuch empfängt. Herausragendes innenpolitisches Ereignis des Jahres 1987 ist jedoch nicht das Verhältnis zur DDR, sondern die sog. Barschel-Pfeiffer-Affäre. Als am Vorabend der Wahlen zum Landtag von Schleswig-Holstein das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« einen Bericht veröffentlicht, in dem über Machenschaften des Ministerpräsidenten Uwe Barschel gegen den Sozialdemokraten Björn Engholm berichtet wird, kommt der größte Polit-Skandal der deutschen Nachkriegsgeschichte ans Licht. Immer neue Enthüllungen über Schmutzkampagnen, Abhöraktionen und Verleumdungen offenbaren einen Verlust an politischer Kultur, der in der Bundesrepublik ohne Beispiel ist.
Barschel beteuert seine Unschuld, gerät jedoch durch Widersprüche und belastende Aussagen unter immer stärkeren Druck. Am 11. Oktober kommt der Politiker unter mysteriösen Umständen in Genf ums Leben. Ob er aus Verzweiflung den Freitod wählte oder – wie von seiner Familie vermutet – Opfer eines Mordanschlages wurde, kann nicht zweifelsfrei geklärt werden.
Was sonst noch geschieht: Für Schlagzeilen über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus sorgen 1987 zwei deutsche Jugendliche. Im Mai landet der 19-jährige Mathias Rust mit seinem Sportflugzeug auf dem Roten Platz in Moskau. Der unbehelligte Flug über den Eisernen Vorhang, mitten in das Machtzentrum der hochgerüsteten Sowjetunion, löst weltweit Heiterkeit aus. Sportfans freuen sich über die Erfolge von Steffi Graf. Im August 1987 übernimmt die 17 Jahre junge Brühlerin als erste deutsche Tennisspielerin die Führung in der Weltrangliste.
Mehr als nur eine Randnotiz: Unruhe in die innenpolitische Landschaft der Bundesrepublik bringt die Volkszählung, die 1983 aus Gründen des Datenschutzes abgesagt werden musste und nun im Mai stattfindet. Den totalen Überwachungsstaat fürchtend, rufen die Grünen zum landesweiten Boykott auf, gegen den die Bundesregierung hohe Strafen androht. Die Volkszählung selbst verläuft ohne gravierende Störungen.
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