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Sonderausgabe: Der 2. wissen.de-Literaturwettbewerb - die Siegergeschichte

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wissen.de und Buecher hatten zum 2. wissen.de-Literaturwettbewerb aufgerufen. Das Thema: Wasser. Mehr als 200 Kurzgeschichten wurden eingereicht, die Jury hatte jede Menge zu tun. Und nun stehen die Sieger fest. Hören Sie die Siegergeschichte "Das Labsal" von Martina Kohlenbeck.

 

Das Labsal

 

Johanna öffnete die Augen. Sie sah über sich, wie jeden Morgen, die weiße Decke mit der schmalen Zierleiste am Rand. Sie zog die Augenbrauen in die Höhe, kräuselte die Stirn und versuchte ihre Augen aufzureißen, als hätte sie etwas Interessantes erspäht. Die Wimpern klebten und ihre Augenränder fühlten sich bröselig an. Sie ließ ihren Blick zum Deckenlicht wandern. Es war ein kleiner, in die Decke eingelassener Halogenscheinwerfer.

Johanna schluckte. Die Mundhöhle war ausgetrocknet. Sie spürte zähen Schleim im Rachen. Sie ließ die Zunge langsam im Mund kreisen. Der Speichel bildete sich nur zögerlich unter der Zungenspitze. Eine winzige Pfütze. Sie drückte die Zunge kräftig gegen den Gaumen und spannte die Muskeln im Mund an. Mist. Ihre Mundhöhle blieb klebrig und der Pfropfen belagerte weiterhin ihre Kehle.

Nur nicht hektisch werden. Ganz ruhig bleiben. Wie spät es wohl war?

Johanna versuchte beide Pupillen bis zum Anschlag nach links zu drehen. Die Spannung drückte die Augäpfel nach hinten in die Höhlen hinein. Die Augenmuskeln wurden zu zwei stramm gezogenen Gummibändern. Es nützte nichts. Das Äußerste, was ihr Blick noch fassen konnte, war der Lichtschalter neben der Zimmertür.

Wer um Himmels Willen plante solche Krankenzimmer? Eine Uhr an der Wand wäre doch nicht zuviel verlangt. Stattdessen gab es einen Reisewecker auf ihrem Nachttisch. Der stand sicher in der gleichen Art unverrückbar dort, wie sie selbst in diesem Bett lag. Nicht immer gleich und doch immer an der gleichen Stelle.

Am Rand ihres Schlundes schienen Ameisen zu laufen, die mit Elektroschocks gejagt wurden. Ihr Gaumen verkrampfte sich ganz kurz. Sie schluckte reflexartig. Es knirschte leise in ihren Ohren. Sie bewegte ihre Zunge an der unteren Zahnreihe entlang. Von rechts nach links. Ihre Schneidezähne waren rau vom Zahnstein. Dagegen lief die Zunge so reibungslos über die Backenzähne wie ein Putztuch über polierten Stein. Johanna kreiste die Zunge ein paar mal hin und her, bis sie zu warm davon wurde.

Immer noch dickflüssiger Schleim im Mund.

 

Das Labsal II

 

Über Johannas Körper lief ein kurzer Schauer. Bald würde sie ihren morgendlichen Schluck Wasser bekommen. Das war das erste, was Schwester Monika machte. Sowie ihr rundes Gesicht über Johanna auftauchte, hüpfte ihr Herz. Die Muskeln, die noch die übliche nächtliche Anspannung fest hielten, relaxten augenblicklich, wenn Schwester Monika mit gespreizten Fingern Johannas Kopf in ihrem Handteller ablegte. Erwartungsvoll öffnete sie den Mund mit leicht geschürzten Lippen. So konnte Schwester Monika den oberen Glasrand sanft auf ihrer Unterlippe ablegen. Johanna drückte dabei automatisch die Zunge nach unten und schob sie so weit nach hinten wie es noch angenehm für sie war. Sie wollte das Wasser lange im Mund halten. Sie wollte spüren, wie jede Ritze und jede Nische in ihrer Mundwüste erfrischt wurde. Sie zählte gewöhnlich bis zehn, bis sie den kühlen Tropfen schluckte. Johanna genoss diese Verzögerung, auch weil das Trinken heikel war. Für sie wie für Schwester Monika. Wenn Johanna bis neun gezählt hatte, zog sie den Mund kräftig zusammen. Die Unterlippe löste sich dabei Punkt für Punkt von dem Glasrand. Sogleich wurde auch Schwester Monikas Körper in der engen Umarmung härter. Ihre Hand an Johannas Kopf formte sich zu einer greifenden Klaue, die ihren Kopf umklammerte. Johanna fühlte deutlich fünf Druckpunkte auf der Kopfhaut.

Genau in diesem Moment durchströmte Johanna regelmäßig dieses warme Gefühl für Schwester Monika. Es war so freundlich von ihr, Johanna trinken zu lassen.

 

Das Labsal III

 

Wo blieb sie denn nur?

Unvermittelt wurde die Tür des Zimmers aufgerissen. Die Blätter des Wandkalenders flatterten auf.

„Guten Morgen, Frau Peters.“ Eine kleine Person kam auf Johanna zu und beugte sich über ihr Gesicht. „Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen“, sagte die Frau und legte ihre Hand auf Johannas Unterarm. Johanna atmete tief ein. „Ich bin Schwester Clarita. Wir beide kennen uns noch nicht. Ich werde Sie in der nächsten Zeit betreuen. Schwester Monika ist leider erkrankt. Ich übernehme hier das Ruder, bis sie wieder fit ist.“

Schwester Clarita lächelte so breit, dass sich ihr Mund zu einer liegenden Mondsichel verzog.

Johanna hielt die Luft für einen Moment an.

„In den Akten steht, dass sie über die PEG versorgt werden.“ Schwester Clarita schaute Johanna fragend an. Johanna sog tief die Luft ein, hob die Augenlider an und bewegte die Pupillen nach oben. „Ich nehme an, dass das eine Zustimmung sein soll?“ Schwester Clarita zwinkerte mit dem rechten Auge, zog dabei den Kopf ein wenig nach vorne und lächelte verhalten. Ehe Johanna reagieren konnte, fuhr sie fort: „Ich werde sie also erst einmal nur waschen. Die Nahrung verabreiche ich ihnen danach über die PEG.“

Johanna rief stumm nein, nein, nein. Sie rollte die Augen hin und her, wobei sie immer wieder Schwester Clarita mit dem Blick festhielt. „Die Nachtschwester sagte mir, dass sie heute kein Bad benötigen.“ Johanna schluckte mit Nachdruck. Einmal, zweimal, dreimal, bis sich der Hals wie eine Reibe anfühlte. „Ich werde sie also lediglich mit dem Waschlappen frisch machen. Sind Sie damit einverstanden?“ Zwei grüne Augen, in denen sich Johanna spiegelte, hingen über ihrem Gesicht. Johanna nahm einen tiefen Atemzug, runzelte die Stirn, hob die Augenbrauen und ließ die Pupillen kreisen. Schneller als vorhin. So schnell, bis Schwester Clarita und das Zimmer sich drehten. „Schön. Dann kann es ja gleich losgehen.“

Johannas Herz begann merklich zu schlagen. Ihre Kehle brannte. Wieder ließ sie die Zunge im Mund kreisen. Die Fleischwölbung unter den Vorderzähnen war pelzig. Johanna versuchte sich zu konzentrieren, und vor ihrem geistigen Auge ein Stück Schokolade in ihrem Mund schmelzen zu lassen. Der Gedanke schaffte es nicht, ihr das Wasser im Mund zusammen laufen zu lassen. Vielleicht gelang es ihr ja, durch Scharren mit der Zunge am hintersten Gaumenrand den zähen Schleim weiter nach vorne zu bringen. Schweißtropfen bildeten sich auf Johannas Stirn.

Wieder Schwester Claritas Augen über ihren. „Meine Liebe. Sie schwitzen ja. Ich weiß, dass die meisten Patienten mit ihrer Erkrankung Respekt vor der Körperpflege haben. Ich werde Sie ganz sicher vorsichtig berühren.“

Johanna seufzte. Sie heftete ihren Blick unbewegt mitten in Schwester Claritas Gesicht. Doch bevor der Blick seine stechende Wirkung entfalten konnte, hatte Schwester Clarita ihr Gesicht erneut abgewandt und war vom Bett weg getreten.

 

Das Labsal IV

 

Johanna hörte aus dem angrenzenden Bad das Plätschern des Wassers. Ihr Mund füllte sich augenblicklich mit etwas Speichel. Endlich. Leider war der immer noch geleeartig. Sie schloss die Augen und stellte sich den Wasserstrahl vor. Wie er mit einigem Druck aus dem Hahn heraus schoss. Sie konnte das Wasser riechen, wie feuchtes Metall. Sie schluckte.

Schwester Clarita kam mit den Waschutensilien ins Zimmer zurück. „So. Ich werde sie nun aufdecken und ausziehen.“

Johanna bemerkte die Lageveränderung im Kopf. Ihr Gehirn schien dabei zu wabern wie ein Wackelpudding. Wodurch ihr Körper schweißnass wurde.

Wieso konnte der Mensch nicht auch innen schwitzen? „Ist die Wassertemperatur in Ordnung?“ Schwester Clarita schaute Johanna an. Johanna schloss langsam die Augenlider. „Ah. Ich sehe. Frau Peters scheint eine Genießerin zu sein.“ Schwester Clarita streifte mehrmals betont langsam mit dem Waschlappen über Johannas Körper. „Ich freue mich, dass ihnen das Waschen keine zusätzlichen Probleme bereitet.“ Sie wrang den Lappen aus und das Wasser schepperte in die Schüssel.

Johanna atmete schneller. Immer heftiger zog sie die Luft durch die Nase. Ihr Herz schlug kräftig. In den Ohren rauschte es. „Oh, meine Liebe, was gibt es denn?“ Schwester Clarita legte augenblicklich den Waschlappen aus der Hand. „Sie sollten sich beruhigen. Ich bin doch schon fertig. Ich ziehe ihnen nur noch das Hemd an und dann lasse ich sie in Ruhe.“ Schwester Clarita zog Johannas Arme durch die des Nachthemdes und band die Halsriemchen im Nacken fest. Ihre Finger verweilten kurz an Johannes Genick und streichelten abschließend zart über ihren letzten Halswirbel. „Sehen sie, es ist alles gut gegangen. Nun können sie sich noch ein Weilchen ausruhen.“ Die Waschsachen unter den Arm packend, schaute Schwester Clarita noch einmal freundlich zu Johanna und verließ das Zimmer.

Johanna spürte, wie sich die Tränen in ihren Augen sammelten.

 

Martina Kohlenbeck