In Deutschland lebten 2011 wahrscheinlich 81,8 Millionen Einwohner, schätzten Experten. Oder waren es 1,3 Millionen weniger? Wahrscheinlich sei zu ungenau, fand die Bundesregierung. Deutschlands Einwohnerstatistik brauche eine Inventur. Zu lange sei die letzte Volkszählung her. Im Osten – damals noch DDR – 1984, im Westen 1987 - und auch die konnte nur unter lautem Ach und Krach durchgeführt werden, weil das Gros der Bevölkerung dagegen protestierte. Es gab Verbesserungs-, vor allem aber Gewöhnungsbedarf. Zwar hat es Volkszählungen vereinzelt schon im Altertum gegeben. Regelmäßig wurden sie aber erst allmählich seit Ende des 18. Jahrhunderts eingeführt. Wir werfen einen Blick in die Geschichte des Zensus. Beginnen wir mit Maria und Josef: Ausgerechnet Jesus musste vor 2000 Jahren in einem Stall auf die Welt kommen – und das wegen einer Volkszählung!
„In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen. Dies geschah zum ersten Mal, damals war Quirinus Statthalter von Syrien. Da ging jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu lassen.“
Die Weihnachtsgeschichte ist die wohl bekannteste Überlieferung einer Volkszählung. Maria und Josef brechen von Nazareth nach Bethlehem auf. Maria ist hochschwanger. Und wie der Zufall es will, geht's ausgerechnet dann mit den Wehen los. Die einzige Unterkunft, die Maria und Josef finden, ist ein Stall in Bethlehem. Dort kommt Jesus zur Welt.
Josef stammte aus Bethlehem. Dort musste er sich registrieren lassen. Laut Bibel ließ sich "die ganze Welt schätzen". Die ganze Welt, das war damals das Römische Reich. Es reichte immerhin von Spanien bis Syrien. Die Römer waren die ersten, die einen Zensus sowie eine Kopf- und Grundsteuer einführten. Dazu mussten sich Bewohner samt Besitz erfassen lassen.
Damals war die Festsetzung von Steuern der Grund für Volkszählungen. Daneben galt es, die Zahl der wehrfähigen Männer zu bestimmen, weshalb auch nur Männer und keine Frauen gezählt wurden.
Im Laufe des folgenden Absatzes schon einspielen und nach Absatzende etwas laufen lassen
Der von Kaiser Augustus angeordnete Zensus ist nicht der einzige biblisch belegte. Im Buch Numeri des Alten Testaments begegnen wir im Kontext einer militärischen Musterung nach dem Auszug des Volkes Israel aus Ägypten einer Volkszählung, die von Gott selbst angeordnet worden sein soll. Eine weitere Zählung soll König David einberufen haben, wie im Zweiten Buch Samuel zu lesen ist. Sie dauerte neun Monate und 20 Tage. Später lässt König Salomo Fremde zählen, um sie als Arbeiter und Aufseher für den Bau eines Tempels zu gewinnen.
Außerhalb der Bibel sind – wenn auch lückenhaft - einzelne weitere Volkszählungen aus China, Ägypten und Judäa überliefert. In Ägypten soll alle 14 Jahre ein Zensus stattgefunden haben. Erfasst wurden neben den Männern auch Grundbesitz, Viehbestand, Häuser und Sklaven. Bei der Zählung in China im 7. Jahrhundert ging es darum, Kleinbauern das Überleben zu sichern. Sie erhielten Parzellen auf Lebenszeit.
Auch beim Volk der Inka, das um 1200 nach Christus gegründet wurde, waren Volkszählungen üblich. Sie nutzten hierfür "Quipus", Knotenschnüre mit verschieden gefärbten Knoten zum Registrieren von Zahlen. Ihre zentrale Verwaltung hatte die Bevölkerung in Zehnergruppen geteilt. Es gab kleine Einheiten, etwa zehn Familienvorstände und einen Häuptling, oder große Einheiten mit 10.000 Haushalten. Nach jeder Zählung wurden die Gruppen neu eingeteilt; Männer heirateten mit 25 Jahren und mussten von da an Steuern in Form von Arbeit oder Kriegsdienst entrichten. Frauen heirateten bereits mit 18 Jahren und waren für Haushalt und Kinder zuständig bzw. gingen der Weberei nach.
Im Mittelalter gab es nur wenige Volkszählungen. Unter anderem spielte der fehlende Datenschutz eine Rolle. Noch 1753 lehnte das britische Parlament eine Zählung ab, weil sie Englands Feinden dessen Schwächen zeigen könnten. Ein Abgeordneter war über alle Maßen empört darüber, "dass es menschliche Wesen gäbe, die so frech und schamlos seien", einen solchen Vorschlag überhaupt zu unterbreiten.
Offener für einen Zensus waren einzelne Städte in Deutschland, Nürnberg etwa. Bei den späteren landesweiten Zählungen wurde die durchschnittliche Anzahl der Personen pro Feuerstelle ermittelt. Interessant sind die zusätzlichen kirchlichen Aufzeichnungen zur Bevölkerung. Pastoren mussten Buch über die "Seelen" führen. Es gab ganze Familienbücher, in denen die Zahl und das Alter der Kinder verzeichnet waren.
Für demographische Zwecke hatten die Volkszählungen der Geschichte praktisch keinen Wert. Es ging um Fiskus und Verwaltung sowie um das Heer. Das änderte sich allmählich im 17. Jahrhundert mit den Volkszählungen in Kanada und Preußen. Zunehmend spielte auch die Infrastruktur eine Rolle. Auf Kanada und Preußen folgten im 18. Jahrhundert Finnland und Schweden, Österreich, Dänemark und Norwegen mit Volkszählungen. Die Vereinigten Staaten führten 1789 als erstes die Zehn-Jahres-Regelung ein, wie sie heute in vielen anderen Ländern ebenfalls üblich ist und jetzt auch in Deutschland bzw. ganz Europa eingeführt werden soll.
Nach über 20 Jahren findet hier nicht nur wieder ein Zensus statt. Er wird auch nach dem "registergeschützten Modell" durchgeführt – 30 Jahre, nachdem Dänemark auf dieses Verfahren umgestellt hat. Hinkt Deutschland hinterher?
Ein Blick in die 1980er Jahre: Die für 1983 anberaumte Volkszählung in Deutschland führte zu Massenprotesten. Bürgerinitiativen schossen aus dem Boden, Verfassungsbeschwerden folgten, die Menschen boykottierten die Zählung, hatten Angst vor einem Überwachungsstaat, die durch die unbekannte, weil neue elektronische Datenverarbeitung noch geschürt wurde. Der Bundesgerichtshof musste den Zensus letztlich kippen. Das Gericht führte den Gedanken der "informationellen Selbstbestimmung" als Grundrecht ein. Wenn die Bürger nicht mehr wüssten, wer was wann über sie wisse, würden sie sich möglichst unauffällig verhalten, hieß es. Und weiter:
„Freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus.“
Erst vier Jahre später kam es dann doch noch zu einer Zählung. Proteste gab es auch dann noch. Schon Monate vorher waren Zeitungen und Fernsehen voll davon. Am Stichtag wurden Interviewer teilweise angegriffen oder schon mit einem Zettel an der Tür abserviert, auf denen in etwa stand: "Volkszähler – nein, danke!" Aber immerhin fand der Zensus statt.
2011 steht die EU-weite registergeschützte Volkszählung an. In Deutschland ist es die erste seit der Wiedervereinigung. Neu ist, dass Bürger nicht nur direkt in ihrem Zuhause befragt werden, sondern ein Großteil der Daten aus bestehenden Verwaltungsregistern entnommen wird. Direkt befragt werden nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung, ca. 7,9 Millionen Bürger.
Wer zu diesen zehn Prozent gehört, das wird nach dem Zufallsprinzip entschieden. Vollständig befragt wurden wie bisher nur die 17,5 Millionen Immobilieneigentümer. Neu erfasst werden beim Zensus 2011 der Migrationshintergrund und die religiöse Zugehörigkeit. Bisher gab es nur die Optionen "evangelisch" oder "katholisch" zum Ankreuzen.
Ob Länderfinanzausgleich, die Einteilung der Bundestagswahlkreise, die Stimmenverteilung der Bundesländer im Bundesrat, die Sitze Deutschlands im Europaparlament oder die Berechnung des jährlichen Bruttoinlandsprodukts pro Kopf – all das hängt von aktuellen Einwohnerzahlen ab. Die Daten sollen außerdem Auskunft geben, wie viele Wohnungen oder Häuser es wo gibt, wie alt und groß sie sind und ob der Wohnraum jeweils ausreicht. Auch stellen die Zahlen die Grundlage für Entscheidungen bei der Infrastrukturplanung dar: Braucht es an einem Ort eher Kindergartenplätze, Schulen oder Altenheime? Das funktioniert nur mit aktuellen und verlässlichen Daten.
Derzeit gibt es noch Karteileichen und doppelt geführte Personen, die sich zum Beispiel beim Umzug im alten Ort nicht abgemeldet haben. Der Zensus 2011 wird allerdings auch keine 100%ig verlässlichen Zahlen liefern können. Durch Stichproben können Zahlen der amtlichen Bundesstatistik korrigiert werden, nicht aber die Register der Gemeinden. Das verbietet das Datenschutzgesetz. Außerdem ist es möglich, dass die direkt Befragten ihre Fragebögen anonymisieren. Falsche Angaben können ebenfalls nicht ausgeschlossen werden. Dennoch versprechen sich Regierung und Statistische Ämter vom neuen Zensus eine größere Genauigkeit in der Statistik als es jetzt noch der Fall ist. Ab sofort soll ein Zensus alle zehn Jahre stattfinden. Übrigens: Im Gegensatz zu früher werden heute auch Frauen gezählt.
Hätte es dieses registergeschützte Verfahren schon vor 2000 gegeben, wären Maria und Josef die Strapazen der Wanderung nach Bethlehem erspart geblieben. Josef wäre entweder als freiberuflicher Zimmermann registriert gewesen, hätte Besuch von einem der 80.000 Interviewer bekommen, die ab dem 9. Mai unterwegs sein werden, oder Post vom Statistischen Landesamt. Und Jesus hätte nicht in einem Stall geboren werden müssen. Allerdings hätte es der Weihnachtsgeschichte einen Abbruch getan, ist sie so doch so wie sie ist viel gehaltvoller und den menschlichen Gedanken erfrischend ferner. Apropos Geburt: Kinder, die am 9. Mai zur Welt kommen, werden in der Volkszählung auch erfasst.
Dorothea Schmidt, wissen.de-Redaktion