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Polio: Das Virus ist zurück
Zunächst schien es nur ein Einzelfall zu sein: Im Juli erkrankte ein Mitte-Zwanzigjähriger New Yorker schwer an Polio, obwohl die Kinderlähmung in den westlichen Industrieländern als fast ausgerottet gilt. Auch in den USA ist sie eigentlich seit über zehn Jahren nicht mehr aufgetreten. Der junge Patient ist inzwischen kein Einzelfall mehr. Weil vermehrt Polioviren im Abwasser der Metropole gefunden wurden, rief der US-Bundesstaat bereits den Katastrophenfall aus.
Was sind die Folgen einer Polio-Infektion?
Da Polioviren vor der Einführung der Impfung Anfang der 1960er Jahre so weit verbreitet waren, dass die Ansteckung meist bereits im Kindesalter erfolgte, etablierte sich der Begriff „Kinderlähmung“. Bei etwa 75 Prozent der Infizierten verläuft die Viruserkrankung allerdings ganz ohne Symptome und bleibt häufig sogar undiagnostiziert. In wenigen Fällen kann das Virus auch grippeähnliche Symptome wie Husten, Schnupfen, Fieber und Übelkeit auslösen.
Bei rund fünf bis zehn Prozent der Infizierten kann das Poliovirus aber das Nervensystem befallen und eine Hirnhautentzündungen verursachen, bei einem Prozent der Fälle kommt es zu Lähmungserscheinungen. Besonders oft sind von dieser paralytischen Poliomyelitis g Kleinkinder betroffen. Die Folgen können schwerwiegend sein: Gliedmaßen bleiben oft dauerhaft gelähmt und bei Beeinträchtigung der Atmung oder des Kreislaufs können die Lähmungen gar zum Tod führen.
Eine Therapie gibt es bei Kinderlähmung bisher nicht. Die Ansteckung erfolgt meist über die sogenannte Schmierinfektion. Das bedeutet, dass die Viren aus dem Kot auf die Hände gelangen und dann auf Gegenstände, Oberflächen oder Lebensmittel übertragen werden. Über die Speisen oder Berührungen des Munds können die Erreger dann in den Körper gelangen. Ebenso können die Polioviren beispielsweise über verschmutztes Trinkwasser übertragen werden. Die Zeit zwischen Ansteckung und Ausbruch der Erkrankung beträgt etwa drei bis 14 Tage.
Impfstoffbedingtes Polio
Grundsätzlich kann man sich durch zwei verschiedene Virusarten mit Polio infizieren. So gibt es einerseits den Wildtyp, die ursprüngliche Variante der Polio-Viren, die aber in den meisten Teilen der Welt durch die Impfung ausgerottet wurde. Diese Variante tritt nur noch in Pakistan und Afghanistan sowie vereinzelt in Afrika auf.
Andererseits gibt es aber auch Viren, die durch den Impfstoff bedingt sind. Das als Schluckimpfung verabreichte Vakzin enthielt früher ein abgeschwächtes Lebendvirus, das sich nach der Einnahme mehrere Wochen lang im Magen-Darmtrakt der geimpften Personen vermehrt und die Antikörper-Produktion anregt. Während dieser Phase werden Impfviren mit dem Stuhl ausgeschieden und können dann unter ungeimpften Personen zirkulieren und in Einzelfällen so mutieren, dass sie wieder eine Erkrankung auslösen. Auch diese Form des Virus kann sich dann verbreiten.
In den meisten Ländern wird Lebendvirus-Impfstoff daher inzwischen bei der Polio-Impfung nicht mehr verwendet, sondern ein Impfstoff ohne aktive Viren. Auch in den USA und Deutschland ist dies der Fall. In einigen anderen Ländern wird die alte Schluckimpfung jedoch weiterhin genutzt, was eine globale Ausbreitung weiterhin möglich macht.
Notsituation New York
Auch der im Juli erkrankte New Yorker war mit dem mutierten Impfvirus infiziert. Weil er nicht gegen die Kinderlähmung geimpft war, ist er durch die Erkrankung gelähmt. Die US-Gesundheitsbehörden gehen jedoch davon aus, dass er nicht der einzige Erkrankte ist, sondern dass es in der Region noch eine hohe Dunkelziffer von Infizierten gibt, die lediglich symptomfrei blieben.
Darüber hinaus wurden bereits verschiedene Virenstämme im Abwasser vier unterschiedlicher Stadtteile New Yorks nachgewiesen. Die Polio-Viren gelangen ins Abwasser, indem Infizierte sie ausscheiden. Gründe für die aktuelle Ausbreitung der Polioviren können sowohl mangelnde Hygiene als auch zu geringe Impfquoten sein. Besonders in den Stadtteilen, in denen die Viren nachgewiesen wurden, liegt die Quote der gegen Polio Geimpften teilweise bei nur 40 Prozent. Bei Kindern im Alter von bis zu zwei Jahren sind etwa 79 Prozent geimpft. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt eigentlich eine Impfquote von 95 Prozent.
Wie sieht es hier aus?
In Deutschland ist die Quote der gegen Polio geimpften Kinder in den vergangenen Jahren ebenfalls stetig gesunken. 2021 waren etwa 92 Prozent der Kinder beim Grundschulstart geimpft. Während auch dieser Wert unterhalb der WHO-Empfehlung liegt, ist ein Polio-Ausbruch in Deutschland dennoch unwahrscheinlich. Sowohl das Robert-Koch-Institut (RKI), als auch der Virologe Alexander Kekulé sehen hierzulande aufgrund der vergleichsweise hohen Impfquote keine akute Gefahr. Laut Kekulé ist es dennoch sinnvoll, das Abwasser zu überwachen, damit im Zweifel frühzeitig eingegriffen werden kann.