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Salafismus: Warum werden Jugendliche auch bei uns radikal?

Hunderte junge Männer haben sich aus Deutschland aufgemacht, um für die islamischen Terroristen der IS zu kämpfen. Wie und warum aber wurden sie zu Radikalen? Wie lässt sich diese Radikalisierung erkennen? Und wie sollte man ihr entgegnen? Ein Bericht von Ahmad Mansour, Mitarbeiter bei der Beratungsstelle Hayat, die Betroffenen und Angehörigen hilft.
Ahmad Mansour für bpb.de/ CC-by-nc-nd/3.0/de/

IS-Flagge
Gemeinfrei

Seit Monaten sind radikale Islamisten ganz oben in den Nachrichten. Die militärische islamistische Vereinigung IS kämpft in Syrien und dem Irak. Auch Paul und Mehmet, zwei Berliner Jungs aus meinem Kiez, sind begeisterte IS-Anhänger. Sie verfolgen den Verlauf der Kämpfe, posten und teilen Bilder und Videos von den Kämpfern an der Front, äußern sich online wütend gegen die Eingriffe des Westens und spielen sogar mit dem Gedanken, sich dieser Gruppe in Syrien bald anzuschließen.

 

Die Debatte um den Umgang mit radikalen Rückkehrern aus Syrien, der Anschlag auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo und vorher schon eine jüdische Synagoge in Brüssel bringen das Thema bis vor unsere Haustür. Die laut Angaben des Verfassungsschutzes bislang 400 Ausreisende, die das sichere Deutschland verlassen haben, um in Syrien zu kämpfen, die Tausenden, die davon träumen, und die zehntausenden Sympathisanten zeigen, wie gewaltig das Problem in Deutschland ist.

Rückkehrer: Von traumatisiert bis gewaltbereit

Das Problem: Die meisten jungen Männer, die nach Syrien oder in den Irak gehen, haben mit dieser Gesellschaft schon abgeschlossen. Sie gehen, um dort in ihrer Vorstellung ehrenhaft zu sterben, für Allah, für das Paradies - sie haben gar nicht vor, zurückzukommen. Und die, die zurückkommen, bringen sehr unterschiedliche Erfahrungen mit.

Die eine Gruppe ist von ihren Kriegserfahrungen hochtraumatisiert und muss in der Psychiatrie oder zumindest in Psychotherapie behandelt werden. Dann gibt es auch die jungen Männer, die sich wichtig machen wollen. Sie sind für ein paar Wochen nach Syrien oder in den Irak gereist, um sich mit einer Kalaschnikow fotografieren zu lassen und die Bilder auf Facebook zu posten. Die dritte Gruppe kommt zurück, um hier zu rekrutieren und vielleicht auch Gewalt in Europa auszuüben: Das sind die gefährlichen Ideologen. Und sie sind auch nicht bereit, mit mir oder mit den Sicherheitsbehörden zu sprechen.

Warum werden junge Menschen radikal?

Aber viel gefährlicher und viel bedeutender als all diese Rückkehrer sind junge Menschen wie Paul und Mehmet, die hier in Deutschland geblieben sind, die die Werte dieser Gesellschaft ablehnen und die ihren Jihad hierzulande führen wollen. Doch die Gesellschaft scheint mit Jugendlichen wie ihnen überfordert. Wie erreichen wir Paul und Mehmet und ihresgleichen, bevor sie mit unserer Gesellschaft abschließen – oder bevor wir sie an einen brutalen Krieg verlieren?

Radikalisierung ist ein Prozess: es passiert nicht von heute auf morgen und auch nicht ohne unterschiedliche, manchmal komplexe Umstände. Dieser Prozess fängt häufig mit Entfremdung – einem psychischen Zustand – an. Die Jugendlichen sind unglücklich oder unzufrieden in ihrem Leben, sie haben oft wenige soziale Kontakte oder kein starkes soziales Umfeld; vielleicht haben sie auch einen gescheiterten Übergang von Schule zum Berufsleben erlebt oder sie haben eine frustrierende, erfolglose Suche nach einem Ausbildungsplatz hinter sich.

Bei muslimischen Jugendlichen kann es sein, dass sie Diskriminierungserfahrungen gemacht haben: Vielleicht bekamen sie das Gefühl, dass ihre Religion und Herkunft mit Vorurteilen betrachtet wurden. Aber wir reden hier nicht ausschließlich von muslimischen Jugendlichen oder Jugendlichen mit familiären Einwanderungsgeschichten. Bei allen Jugendlichen, die in der Gesellschaft nicht angekommen sind, oder die das Gefühl bekommen, dass sie irgendwie nicht dazu gehören, gilt: kommen zu diesen Gefühlen instabile Persönlichkeitsstrukturen, entwickelt sich ein Zeitfenster von ein bis zwei Jahren, in dem sie für eine Radikalisierung sehr anfällig sind.

Vaterfiguren und Identität

Aus mehreren Gründen kommt der Salafismus - eine fundamentalistische Strömung des Islam – bei diesen Jugendlichen sehr gut an. Das ist besonders der Fall unter den Jugendlichen, denen die Vaterfigur fehlt. Unabhängig davon, ob der Vater die Familie verlassen hat, ob er tot ist oder ob er sich selber in der Gesellschaft nicht zurechtfindet, die Salafisten füllen diese Lücke mit ihrer patriarchalen Ideologie und ihrem strafenden Gott.

Der Salafismus bietet Jugendlichen vor allem eine Identität an. Sie treten aus der schwierigen, postglobalen Welt in ein geregeltes, strukturiertes Umfeld ein und bekommen dort Sinn, Orientierung und eine Mission. Sie finden auch Freunde, Gemeinschaft, Zusammenhalt; endlich gehören sie zu einer Gruppe. Die Gruppe wird für sie eine Art Jugendkultur: Es gibt einen Kleidungsstil, besondere Symbole, bestimmte YouTube-Kanäle und Facebook-Seiten und eine eigene Sprache.

Der "richtige Weg"

Der Salafismus erfüllt auch das Bedürfnis der Jugendlichen nach Information und Wissen. Er nimmt viele Unsicherheiten ab, indem er "Wahrheit" und Autorität anbietet. In diesen Gruppierungen müssen sich die Jugendlichen nicht mehr fragen, was sie anziehen sollen, wie sie sich gegenüber dem anderen Geschlecht verhalten sollen, wie ihr Lebensentwurf aussehen soll. Sie bekommen das Bewusstsein, auf dem "richtigen Weg" zu sein.

Dazu bekommen sie die Möglichkeit zu Protest und Provokation gegen die Eltern oder gegen die Mehrheitsgesellschaft sowie die Chance, sich an einem "Kampf für Gerechtigkeit" zu beteiligen: "Die Muslime werden in Deutschland und weltweit unterdrückt; man muss sich dagegen wehren". So lautet die salafistische Propaganda. Sie bekommen das Gefühl, dass sie missionieren müssen, um andere Menschen vor ihrem elenden Leben zu retten. Und für Jugendliche, die vorher vielleicht ihren Platz in dieser Gesellschaft nicht gefunden haben, ist das eine extrem attraktive Aufgabe.

Raffinierte Propaganda

Die Propaganda für den Salafismus ist raffiniert, weit verbreitet und im Internet fest verankert. Ganz leicht stoßen die Jugendliche auf hochemotionalisierende Inhalte, zugespitzte Botschaften, islamistische Kriegspropaganda. Sie bekommen einen sehr einseitigen, pauschalisierten Eindruck von Konflikten, die immer auf einen Kampf der Ungläubigen gegen die Muslime reduziert werden. Diese Schwarz-Weiß-Welt, in der es klare Opfer und Feinde gibt, ist für die Jugendlichen deutlich zugänglicher als die komplexe, teilweise widersprüchliche Politik, über die in den Nachrichten berichtet wird.

Einige Videos sind von Stil und Graphik her Videospielen sehr ähnlich - ein Format, mit dem viele Jugendliche vertraut sind. Damit wird der Krieg in Syrien und dem Irak als Abenteuer verkauft: Waffen, Adrenalin, Kriegsrausch. Andere Filme sollen zeigen, wie in Syrien und dem Irak nur nach der Scharia in einer Art Utopie-Gesellschaft gelebt wird, so dass man nur unter Muslimen – nur unter den Gläubigen – lebt, mit islamischen Restaurants, Apotheken, Kindergärten.

In der realen Welt spielen islamistische Prediger eine große Rolle. Sie nehmen sich für die Jugendlichen viel Zeit und geben sich zum Beispiel als Sozialarbeiter aus. Sie nehmen die Jugendlichen ernst, reden mit ihnen über den Krieg und die Lage im Nahen Osten und sprechen vom Bürgerkrieg in Syrien als dem Endkampf zwischen Muslimen und Ungläubigen, einer Art Endzeitkrieg, aus dem die Muslime als Sieger hervorgehen werden.

Woran erkennt man eine Radikalisierung?

Die Tendenzen zu einer islamistischen Radikalisierung sind oft schon früh im Alltagsverhalten zu sehen: wenn der betreffende Jugendliche sich beispielsweise anders kleidet, sich nicht mehr für Musik und TV-Serien interessiert, sondern sich intensiv mit Online-Foren und YouTube-Videos beschäftigt, ihm religiöse Symbole plötzlich sehr wichtig werden. Er will vielleicht keine Geschenke mehr an Weihnachten bekommen oder sich nicht mehr an anderen, nicht islamischen Traditionen beteiligen.

Anderen Jugendlichen gegenüber verhält er sich auch anders: im Unterricht zieht er sich zurück, er möchte nicht mehr mit Mädchen ohne Kopftuch reden, gibt der Lehrerin nicht mehr die Hand. Vielleicht wirkt er müde, da er nachts aufgestanden ist um zu beten. Seine Argumentationsmuster ändern sich, er hat eine fehlende Ambiguitätstoleranz, zeigt eine wachsende Empfänglichkeit für Verschwörungstheorien, äußert sich aggressiv gegen Andersgläubige, Christen, Juden und Muslime, die ihre Religion liberal leben.

Was kann man tun?

Eine effektive Präventionsarbeit ist eine gesamtgesellschaftliche, langfristige Aufgabe. Es muss zwar auch sichergestellt werden, dass radikalisierte Jugendliche keine Sicherheitsbedrohung für die Menschen in diesem Land darstellen - viel pragmatischer wäre es aber, die Jugendlichen von vornherein vor der Radikalisierung zu schützen.

Um diese Aufgabe zu leisten, ist zum einen der Aufbau von kommunalen Netzwerken von Eltern, lokalen Akteuren aus der Schule, Sozial- und Jugendarbeit, aus Polizei und Politik wichtig. Sie können beratend aktiv werden, die "Symptome" erkennen und vor einer möglichen Radikalisierung schützen. Seit 2012 gibt es in Deutschland zudem die Beratungsstelle Hayat vom Beratungsnetzwerk des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. Hier können Angehörige rund um die Uhr anrufen und sich kostenlos beraten lassen.

Um einer Radikalisierung vorzubeugen, sollten die Jugendlichen zudem in Schule und Alltag so oft wie möglich gefordert sein, kritisch zu denken und zu hinterfragen. Wer einmal gelernt hat eine eigene Position zu hinterfragen, ist weitaus besser immunisiert gegen Extremisten, die blinde Nachfolge und bloßes Nachbeten verlangen. Ein wichtiger Teil der Präventionsarbeit wäre auch, Jugendlichen verlässliche muslimische Vorbilder anzubieten, die ihre Religion anders ausleben und mit den Radikalen nichts gemeinsam haben. Um Ausreisen bereits radikalisierter Jugendlicher zu verhindern, wäre es in manchen Fällen hilfreich, auch punktuell mit Imamen zusammenzuarbeiten.

Akzeptanz ist wichtig

Jugendliche sollen sich auch mit ihren individuellen religiösen und kulturellen Hintergründen akzeptiert und anerkannt fühlen. Zu oft ist die Rede von "Ausländern” und "muslimischen Jugendlichen”, obwohl viele muslimisch geprägte Jugendliche die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und in diesem Land geboren sind. Wenn immer wieder von "wir und ihr" die Rede ist, von "den Anderen", dann ist es kein Wunder, dass diese Anderen eine Identität suchen, die ganz anders als das "Wir" ist, und die dieses "Wir" auch abwertet.

Wir Menschen in Deutschland müssen endlich inklusiver reden, denn diese Jugendlichen – und ihre Probleme - sind Teil unserer Gesellschaft. Wir müssen auch Räume schaffen, in denen Jugendliche frei und auf Augenhöhe diskutieren können, ohne Angst vor Abwertung. Nur dann werden sie in der Lage sein, sich emotional und intensiv mit schwierigen, teilweise tabuisierten Themen wie dem Islamismus gemeinsam auseinanderzusetzen.

Dossier Islamismus bei der Bundeszentrale für politische Bildung.

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