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Sekten – brutale Verführer
Wer gerät ins Visir der Gurus?
„Die Anfälligkeit für Heilslehren und vereinnahmende Gruppen hat wenig mit Intelligenz zu tun“, sagt der renommierte Sektenexperte Hugo Stamm, „sondern viel mit unserer Lebensweise, der gesellschaftspolitischen Entwicklung, der psychischen Befindlichkeit und unseren religiösen Defiziten“.
In der Regel haben die erfolgreich Angeworbenen eines gemeinsam: Sie sind auf der Suche nach einem neuen Sinn – weil sie gerade eine persönliche Krise durchlaufen oder weil sie sich zunehmend fremd fühlen in einer von Effizienz und Erfolg gesteuerten Welt. Die Heilsversprechen einer Sekte kommen da wie gerufen, wie auch das euphorisierende Gefühl des Auserwähltseins. Der Wunsch, sich dem Sektenchef als Übervater anzuvertrauen und im Kreis der Gleichgesinnten die Welt zu retten, macht die Anhänger blind für die Indoktrination des totalitären Sektenregimes.
Psychische Manipulation
Wie kann es sein, dass ein intelligenter Mensch jeglichen kritischen Verstand in die Hände eines Führers legt, damit der daraus formen kann, was er will? „Psychische Manipulation“ heißt das Schlagwort, umgangssprachlich auch „Gehirnwäsche“ genannt. Ziel aller Sekten ist die Verminderung der Willensfreiheit und die permanente Kontrolle der Mitglieder. Intransparente Methoden und Täuschungsmanöver erschweren eine Gegenwehr oder machen sie mitunter sogar unmöglich.
Manipulation bzw. Bewusstseinskontrolle ist ein wichtiges Forschungsfeld für Psychologen. Pionier auf diesem Gebiet ist der Sozialpsychologe Kurt Lewin (1890-1947). Während des Zweiten Weltkriegs ging der vor den Nazis geflohene deutsche Wissenschaftler in den USA der Frage nach, wie der Nationalsozialismus in Deutschland entstehen konnte. Er entwickelte ein Drei-Phasen-Modell, wie die „menschlichen Systeme“ verändert werden müssten, um solche Entwicklungen zu verhindern.
Die drei Phasen nach Lewin sind: „Unfreezing“, „Moving“ und „Refreezing“. Das einst gelernte Wertesystem wird zunächst aufgetaut (Unfreezing). Dann werden die neuen Werte eingepflanzt (Moving) und schließlich mit Hilfe bestimmter Strukturen und Instrumente zu einem neuen Wertesystem eingefroren (Refreezing).
Was damals in bester Absicht geschah und tatsächlich als Masterplan für die „Re-education“ der Deutschen nach dem Krieg diente, entwickelt in falschen Händen eine höchst gefährliche Dynamik. So z.B. bei den Sekten.
Die Zerstörung bisheriger Werte und das Einimpfen neuer Überzeugungen durch ein Indoktrinationssystem nennen manche Forscher zu Recht „Umprogrammierung“: Die Sekte löscht alles, was bisher auf der geistigen Festplatte lag, und spielt ein neues Programm auf, ihr Programm. Dieses ist besonders resistent gegen Angriffe von außen, weil die Programmierung nicht allein auf intellektueller Ebene stattfand, sondern (vor allem!) auf emotionaler. Und wenn wir etwas nicht nur mit dem Verstand gelernt haben, sondern auch mit unserem Gefühl, wenn wir also etwas nicht nur theoretisch wissen, sondern es auch fühlen, ist ein Löschvorgang sehr schwierig.
„Love bombing“ nennen Sektenkritiker die Methode des Einschmeicheln, die v.a. in der Phase der Anwerbung neuer Mitglieder eingesetzt wird. Der Umworbene wird in ein vermeintlich tiefgründiges Gespräch verwickelt: Man hört zu, heuchelt Verständnis, gegebenenfalls nimmt man auch in den Arm und trocknet Tränen. Der Neuling fühlt sich verstanden, vielleicht sogar zum ersten Mal in seinem Leben. Was er nicht weiß: Den neuen „Freunden“ geht es ausschließlich darum, persönliche Schwachstellen aufzuspüren, um das so gewonnene Persönlichkeitsprofil für spätere Ausbeutungszwecke zu nutzen. Etwaige Bedenken gegenüber der Sekte werden geschickt zerstreut, indem die schlechte öffentliche Meinung über die Sekte als Zerrbild und Hetzkampagne dargestellt wird.
Funktioniert das love bombing nicht mehr, wird der Kurs radikal geändert: Verunsichern ist jetzt die Devise: Schuldgefühle werden heraufbeschworen und Ängste geweckt. Dabei erweisen sich die zuvor ausspionierten wunden Punkte als sehr hilfreich.
Für äußerst gefährlich hält Hugo Stamm die von Scientology angewandte Technik des „Auditing“. Dabei handelt es sich um regelmäßige Verhöre, die angeblich therapeutisch-reinigende Wirkung haben sollen, in Wahrheit aber dazu dienen, das Sektenmitglied gefügig zu machen. Vor versammelter Mannschaft wird das Mitglied heruntergeputzt, bis es so klein ist, dass es (wieder) bereit ist, alles zu tun, was die Sekte von ihm verlangt. Dazu gehören nicht selten kriminelle Dienste oder der Zwang zum Geschlechtsverkehr.
Dass die Maschinerie aus Bestrafung (von Aufbegehren) und Belohnung (von z.B. einer hohen Anwerbe-Statistik) so gut funktioniert, dürfte Lernpsychologen nicht wundern. Sie haben schon lange herausgefunden, dass der Mensch immer danach strebt, Bestrafung zu meiden und Belohnung zu suchen. In der Fachsprache heißt das „Operantes Konditionieren“.
Eine weitere Erklärung für die enorm nachhaltige Wirkung der Sekten-Gehirnwäsche liefert die „Theorie der kognitiven Dissonanz“ des Sozialpsychologen Leon Festinger (1919-1989). Ihr zufolge strebt jeder (erwachsene) Mensch nach einem Höchstmaß an Übereinstimmung zwischen seinen Überzeugungen und seinem Handeln. Sobald es doch zu einer Dissonanz kommt, will der Mensch sie unbedingt auflösen. Entweder korrigiert er deshalb seine Überzeugung, verändert sein Verhalten oder zimmert sich eine Art Super-Überzeugung zurecht, unter deren Dach die vorher widersprüchlichen Elemente problemlos Platz haben. Im Falle der Sektenmitgliedschaft lautet die das Selbstbild harmonisierende Super-Überzeugung etwa: „So schlimm kann es ja nicht sein, schließlich ist es ja mein Wille, hier zu sein.“ Diese Verinnerlichung („Internalisierung“) der fremden (Sekten-)Überzeugungen erklärt das enorme Immunsystem dieser Vereinigungen. Mit anderen Worten: Der Todfeind jedes Gurus ist ein kritischer Geist.