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Warum psychische Erkrankungen zunehmen

Immer mehr Menschen haben mit psychischen Problemen wie Depressionen und Angststörungen zu kämpfen. So ist zum Beispiel die Zahl der psychisch bedingten Fehltage von Arbeitnehmern in Deutschland seit 2012 um die Hälfte gestiegen. Doch woran liegt das? Haben wirklich mehr Menschen psychische Probleme als früher oder wirkt es nur so? Und was hat das moderne Arbeitsumfeld damit zu tun?
AMA, 25.10.2023
Symbolbild Burnout

© Alona-Horkova, GettyImages

Gerade erst ist der jährliche Fehlzeiten-Report der Krankenkasse AOK erschienen. Ähnlich wie zuvor bereits andere Erhebungen zeigt auch er einen historischen Höchststand an psychisch bedingten Fehltagen. Allein zwischen 2012 und 2022 hat die Anzahl solcher Fehltage laut Report um 48 Prozent zugenommen. Mittlerweile hat mehr als jeder vierte Erwachsene in Deutschland mit psychischen Problemen zu kämpfen. Sie sind außerdem der häufigste Grund, warum Menschen zu Frührentnern werden. Aber warum scheint die Zahl psychischer Leiden zugenommen zu haben?

Grund 1: Unser Leben ist schneller geworden

Gerade ältere Generationen wundern sich häufig darüber, dass psychische Erkrankungen aktuell so omnipräsent sind. Schließlich haben sich die Lebensverhältnisse in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten objektiv betrachtet deutlich verbessert. Wir leben in Wohlstand, Frieden und Freiheit. Der größte Teil der Bevölkerung muss nicht mehr unter den traumatisierenden Folgen von Krieg leiden, gewalttätige Erziehungsmethoden gelten als überholt und der Zugang zu höherer Bildung ist so einfach wie nie zuvor.

Doch die moderne Welt ist damit noch lange kein Garant für psychische Gesundheit. Im Gegenteil: Zwar haben sich zahlreiche Lebensbedingungen zum Besseren verändert, aber einige auch zum Schlechteren. Dazu gehört, dass unser Alltag in den vergangenen Jahrzehnten immer schneller und unruhiger geworden ist. Die fortschreitende Digitalisierung setzt uns einer nie dagewesenen Dauerbeschallung aus: Sei es in Form von sozialen Medien, Push-Benachrichtigungen oder dass der Arbeitgeber von uns verlangt, ständig erreichbar zu sein. Es fällt uns dadurch zunehmend schwerer, richtig zur Ruhe zu kommen – ein idealer Nährboden für stressbedingte psychische Probleme.

Grund 2: Stress auf der Arbeit und privat

Hinzu kommt, dass moderne Familien- und Arbeitsstrukturen uns häufig mehr Stress aussetzen als frühere Generationen. Dazu gehört, dass beide Partner nun in der Regel Vollzeit arbeiten gehen und sich parallel noch um den Haushalt und eventuell sogar um die Kinderbetreuung kümmern müssen. Aus Sicht der Gleichberechtigung ist es natürlich eine positive Entwicklung, dass Frauen nicht mehr auf die Rolle der Hausfrau und Mutter beschränkt sind. Besorgniserregend ist lediglich, dass das Gehalt einer einzigen Person längst nicht mehr ausreicht, um eine komplette Familie zu ernähren.

Wer Vollzeit arbeitet und sich danach noch um Kochen, Haushalt, Kinder, Eltern, Freunde und Sport kümmern muss, gerät in ein erschöpfendes Hamsterrad, in dem er Freizeit und Erholung hinterherjagt, ohne sie je wirklich einzuholen. Im Fehlzeiten-Report der AOK gaben daher 26 Prozent der Befragten an, bei und vor der Arbeit Angst zu haben. 47 Prozent leiden außerdem an Schlafstörungen, die wahrscheinlich in vielen Fällen damit zusammenhängen, dass wir nach dem täglichen Stress nur schwer zur Ruhe kommen. 78 Prozent der befragten Versicherten fühlen sich außerdem erschöpft, 75 Prozent sind wütend und 66 Prozent lustlos.

Nochmals verstärkend auf den Stress des täglichen Lebens wirkt der zunehmende Fachkräftemangel. Während immer mehr geburtenstarke Jahrgänge in Rente gehen, beklagen jüngere Arbeitnehmer zunehmend Überstunden und gehetzte Arbeitstage. Das betrifft besonders Berufe, in denen ein Nachwuchsproblem besteht. Laut Fehlzeiten-Report sind vor allem Angestellte im Gesundheits- und Sozialwesen von psychischen Problemen betroffen. Sie geben an, von Patient zu Patient zu hetzen, ohne den einzelnen Personen dabei wirklich gerecht zu werden. 14 Prozent ihrer beruflichen Fehltage gehen auf psychische Erkrankungen zurück, im bundesweiten Durchschnitt sind es zehn Prozent.

Grund 3: Weltweite Krisen

Neben diesen Grundbelastungen unseres modernen, rastlosen Lebens sind in den vergangenen Jahren noch einige akute Krisen hinzugekommen. Zunächst die Corona-Pandemie, die mit sozialer Isolation und Sorge vor einer Ansteckung vielfach psychischen Tribut gefordert hat, und dann noch Kriege, Wohnungsnot, Inflation sowie der voranschreitende Klimawandel. Viele machen sich vor diesem Hintergrund Sorgen um ihre Zukunft. Laut Fehlzeiten-Report leiden circa 35 Prozent der Befragten unter ausgeprägter Zukunftsangst.

Sozialwissenschaftler gehen davon aus, dass all diese chronischen und akuten Belastungen unserer modernen Welt einen großen Anteil an der Zunahme psychischer Erkrankungen haben. Sie befördern zum Beispiel Depressionen, Burn-out sowie Anpassungs- und Angststörungen.

Grund 4: Verzerrte Wahrnehmung

Es gibt jedoch noch weitere Gründe, die die Zunahme psychischer Erkrankungen erklären könnten, und die hängen mit der Wahrnehmung zusammen. So fallen uns psychische Probleme als beruflicher Krankheitsgrund zum Beispiel einfach stärker auf als körperliche Krankheiten wie Erkältung und Grippe. Denn: „Im Vergleich zu anderen Krankheiten gehen psychische Erkrankungen häufig mit besonders langen Fehlzeiten einher“, erklärt Gesundheitsforscherin Johanna Baumgardt, die an der Erstellung des Fehlzeiten-Reports beteiligt war. „Während psychische Erkrankungen 2022 im Schnitt zu Arbeitsunfähigkeits-Zeiten von 29,6 Tagen je Fall führten, waren es beispielsweise bei Atemwegserkrankungen nur 7,1 Tage pro Fall.“

Hinzu kommt, dass psychische Krankheiten zunehmen enttabuisiert sind. Wir sprechen offener darüber, verurteilen Erkrankte weniger und suchen uns deutlich häufiger professionelle Hilfe als früher. Es wäre also theoretisch auch möglich, dass die absolute Anzahl psychischer Erkrankungen nicht zugenommen hat, sondern dass Menschen mit entsprechenden Beschwerden einfach häufiger Arzt und Therapeut aufsuchen.

Arbeitgeber in der Pflicht

Am Ende lässt sich die Zunahme psychischer Erkrankungen wahrscheinlich mit einer Mischung aus beiden Ansätzen erklären, was das bestehende Problem aber in keinem Fall mindert. Die Autoren des Fehlzeiten-Reports appellieren daher speziell an Unternehmen und Vorgesetzte, die psychische Gesundheit ihrer Angestellten nicht unter den Tisch fallen zu lassen und Überlastungen zu minimieren.

Arbeitnehmer sollten wiederum darauf achten, sich genügend Auszeiten zu nehmen und auf Anzeichen von Stress, Erschöpfung und Überlastung frühzeitig zu reagieren, statt diese der Produktivität wegen zu übergehen.

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