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Wimmelnde Welten im Wassertropfen

Erstmals im 17. Jahrhundert nahm der später als naturforschender Pionier überaus berühmt gewordene Delfter Tuchhändler Antoni van Leeuwenhoek (1632–1723) Regenpfützen und Waldtümpel seiner Gegend genauer in den Blick und öffnete damit die Tür zu unvorstellbar spannenden Kleinwelten. Seither geht vom "Leben im Wassertropfen" eine besondere und geradezu geheimnisvolle Faszination aus. Tatsächlich verlieren Seh- und Tauchfahrten in den kleinen Dimensionen des Lebensraums Wasser absolut nichts von ihrem Reiz, auch wenn sie zur normalen Routine der mikroskopischen Arbeit gehören.
Bruno P. Kremer, 12.10.2015

Der frisch entnommene Tropfen aus der Trinkwasserleitung ist allerdings völlig unergiebig, um nicht zu sagen total langweilig – Wasser als unser wichtiges Lebensmittel ist normalerweise absolut keimfrei, und insofern wimmelt darin glücklicherweise rein gar nichts. Weggräben, Gartenteiche und Stadtparkweiher, die verstopfte Regenrinne oder die abgestandene Füllung einer Blumenvase bieten dagegen unglaubliche Wimmelwelten mit jeder Menge skurriler Gestalten, an denen auch der niederländische Maler Hieronymus Bosch (ca. 1450–1516) seine helle Freude gehabt hätte. In seinen Bildern hat er mengenweise seltsame Wesen dargestellt, die so aussehen, als seien sie gar nicht von dieser Welt.

Kleinigkeiten sichtbar machen

Wer (noch) kein Mikroskop besitzt, muss jetzt nicht depressiv werden. Was in einer kleinen Wasserprobe aus dem Freiland alles unterwegs ist, kann man auch ohne aufwändige apparative Hilfe zumindest in groben Umrissen wahrnehmen. Viele Kleinstlebewesen, welche die wässrigen Welten artenreich und mengenweise bevölkern, sind immerhin so groß, dass man sie sogar mit bloßen Augen erkennen kann. So schlecht ist die Sehkraft unserer Augen nämlich nicht. Eine wichtige Größe zur Beurteilung der angelieferten Bildqualität ist dabei das räumliche Auflösungsvermögen. Darunter versteht man den minimalen Abstand, den zwei Punkte oder Linien gerade noch haben dürfen, um getrennt wahrgenommen zu werden. Das menschliche Auge schneidet dabei viel besser ab, als man meist annimmt. Immerhin kann es aus normalem Leseabstand (25 cm) Objektstrukturen unterscheiden, wenn diese nur 0,15 mm voneinander entfernt sind – so eben auch die i-Tüpfelchen einer normalen Zeitungsseite. Der zugehörige Sehwinkel ist dann etwa 25 Bogensekunden groß. Ist der Abstand kleiner, verschmelzen die betreffenden Punkte zu einer Einheit. Die Sehschärfe ist eine individuelle und zudem naturbedingt altersabhängige Leistung. Die benannten 0,15 mm sind daher nur ein Durchschnittswert.

Die Stecknadel als Maß kleinster Lebewesen

Bruno P. Kremer

Die von Natur aus vorgegebene Sehschärfe des "unbewaffneten" Auges begrenzt den Informationsgehalt von Bildern, die wir von kleinen Objekten gewinnen können. Möchte man Details besser erkennen, greift man zur Lupe, die den Sehwinkel vergrößert. Die Forschung braucht natürlich noch bessere Objektauflösungen und setzt leistungsfähige Mikroskope ein. Lichtmikroskope verbessern das Auflösungsvermögen unserer Augen etwa um den Faktor 1000 – sie bilden also noch Objektdetails ab, die nur ungefähr 0,15 mm (1 mm = 0,001 mm) voneinander entfernt sind. Ein Elektronenmikroskop setzt nochmals einen Faktor 1000 darauf und kann daher Dinge im Vergleich zu unserem Auge etwa eine Million Mal genauer darstellen.

Klassische Theaterbeleuchtung

Dass in einem Kleingewässer vom Typ Gartenteich oder Weggraben überhaupt jede Menge Klein(st)lebewesen enthalten sind, kann man rasch mit einem einfachen Trick feststellen: Man entnimmt mit einem leeren Konservenglas eine kleine Schöpfprobe und betrachtet sie im Schein einer starken Taschenlampe bei seitlicher Beleuchtung in einem abgedunkelten Raum. Alles, was größer ist als die Auflösungsgrenze unserer Augen, zeigt sich sofort  als unterschiedlich schnell huschende Lichtpünktchen. Man kann auch mit einer Tropfpipette (von der letzten Nasentropfen-Anwendung) eine kleine Probe entnehmen und diese im seitlich auftreffenden Licht anschauen: Viele Amöben und Wimpertiere sind immerhin groß genug, um sich im Streiflicht als kleine und hell aufleuchtende Miniobjekte zu verraten. Hüpferlinge und Wasserflöhe sind in jedem Fall so dimensioniert, dass sie im Rampenlicht sofort auffallen.

Mehr Information liefert diese einfache Sichtung allerdings nicht. Immerhin kann man auf diese Weise sogar Bakterien erkennen – in der überwiegend schillernden, leicht schleimigen Schicht (= Kahmhaut) auf der Oberfläche vieler Kleinstgewässer. Für genauere Einblicke wären eine starke Lupe oder ein gutes Mikroskop eine wunderbare Option.

Der Mini-Zoo auf der Fensterbank

In einem beliebigen Stillgewässer aus der freien Landschaft oder im Lebensraum (Groß-)Stadt einfach mit der Pipette herumzufischen, bringt überhaupt nichts. Viel ergiebiger ist es, Schöpfproben von Fundortwasser – angereichert mit einigen Pflanzenteilen und Bodenmaterial –  in verschließbaren Saftflaschen oder größeren Konservengläsern mitzunehmen und eine Weile auf der hellen, nicht direkt besonnten Fensterbank stehen zu lassen. Aus solchen Kleinaquarien kann man dann in aller Ruhe Blattstückchen mit Aufwuchs entnehmen oder für die Durchmusterung unter Stereolupe bzw. Mikroskop mit der Pipette Oberflächen- oder Bodenraumproben entnehmen.

Wasserfloh: Paradeobjekt aus dem Lebensraum Wassertropfen.

Bruno P. Kremer

Was zu sehen ist, lässt sich kaum voraussagen, denn dafür spielt der Faktor Zufall eine zu große Rolle. Außerdem entwickelt sich die kleine Lebensgemeinschaft ständig weiter und weist zeitabhängig verschiedene Besiedlungswellen auf. Als Materialquelle aussichtsreich sind übrigens auch Vogeltränken. Ab und zu sollte man die Kleinstorganismen im Fensterbank-Kleingewässer füttern – wöchentlich mit einem Tropfen Milch oder einem zerstoßenen Getreidekorn.

Aufwuchs und andere Sitzenbleiber

Schwimmen und Schweben im Bereich der Freiwasserräume ist die eine Lebensstrategie vieler kleiner und kleinster Wasserbewohner. Andere verankern sich lieber als Aufwuchs auf einer festen Unterlage, auf Stängeln und Blätter der Wasserpflanzen ebenso wie auf Holzstückchen oder Steinen – die tastenden Fingerkuppen nehmen sie meist nur als schleimigen Belag wahr.

Wenn man diesen einfach von der Unterlage abkratzt, zerstört man allerdings seine äußerst zart gesponnenen Lebensgemeinschaften. Daher siedelt man diese faszinierenden Kleinstädte besser gleich auf Glas an, im Freiland ebenso wie im Fensterbankaquarium: Es genügt, zwei Objektträger paarweise mit einem starken Gummiband aneinander zu befestigen, im Kleinaquarium aufzustellen oder an einem genügend großen Korkstopfen als Schwimmboje aufzuhängen. Schon nach gut einer Woche zeigt die mikroskopische Betrachtung ausgedehnte Kleinalgenwälder, Wimpertiergebüsche oder dichte Fadengewirre mit Blaugrünbakterien.

Eine verfeinerte Variante dieser Aufwuchsansiedlung besteht darin, einige Deckgläser auf die Wasseroberfläche von Kleinstaquarien zu legen, wo sie die Oberflächenspannung ohne Problem trägt. Nach kurzer Zeit haben sich auch auf der Deckglasunterseite zahlreiche Kleinstorganismen niedergelassen.

Heuaufguss - ein Biotop der Marke Eigenbau

wikimedia, Jennifer Senn / Public Domain

Aufwachen aus dem Trockendock

Geradezu legendär und immer wieder überraschend ist der so genannte Heuaufguss (= „Infusum“):  Nach dieser geradezu unglaublichen Kulturmethode nannten die Mikroskopiker im 18. und 19. die laufend neu entdeckten Kleinstorganismen Infusorien. Dazu geht man geht folgendermaßen vor:

  • Eine knappe (!) Handvoll Heu in ein großes, zuvor mehrfach heiß ausgespültes Konserven- oder Saftglas geben; nur Freilandmaterial verwenden, denn das Heu aus der Zoohandlung ist meist strahlensterilisiert!
  • Gefäß bis etwa 5 cm unter den Rand auffüllen mit a) abgekochtem, wieder auf Zimmertemperatur abgekühltem Leitungswasser oder b) aufgefangenem Regenwasser oder c) dem Wasser aus einem stehenden Freilandgewässer (z.B. Gartenteich)
  • Gefäß nicht verschrauben, sondern zum Schutz vor etwaiger Geruchsbildung nur mit einer Pappscheibe bedecken
  • an einem hellen Platz auf der Fensterbank aufstellen, jedoch nicht der direkten Sonnenstrahlung aussetzen
  • alternativ oder ergänzend wenige Salatblätter (gewöhnlicher Kopfsalat, vorzugsweise aus biologischem Anbau ohne vorherige Pestizidbehandlung) in abgekochtem Leitungswasser ansetzen wie beim Heu beschrieben.

Zu beobachten sind (im Mikroskop) alsbald jede Menge Wimpertiere sowie Rädertiere, die zu den kleinsten Mehrzellern gehören. Bei länger stehenden Ansätzen treten vor allem nach Beimpfung mit Erdproben häufig Amöben auf, darunter auch beschalte Formen.

Fließende Amöbe

Bruno P. Kremer

Faire Behandlung für Untersuchungshäftlinge

Zur mikroskopischen Untersuchung von Aufwuchsproben oder Freilandfängen bringt man das Deckglas nicht direkt auf den Objektträger, weil die kleine Welt dazwischen beim Verdunsten des Wassers arg in die Klemme gerät oder gar zerquetscht wird. Stattdessen verwendet man als sichernde Abstandhalter ein Stück Bindfaden oder etwas Knetmasse. Einfacher geht es natürlich bei Verwendung von Objektträgern mit eingeschliffener Mulde. Diese empfehlen sich auch zur Betrachtung größerer Planktonwesen wie Ruderfußkrebschen.

Oft huschen die Kleinstwesen geradezu ungebärdig schnell durch das Gesichtsfeld und sind längst davon, ehe interessante Einzelheiten zu sehen waren. Dann ist eine wirksame Bremse angesagt: Man rührt einen Tropfen verdünnten Tapetenkleister (Methylcellulose) in die Beobachtungsflüssigkeit und begrenzt den Bewegungsdrang einfach mit erhöhter Viskosität.

Die organismische Besatzung der oben empfohlenen Wasserproben ist kaum vorhersagbar. Es kommt auch gar nicht auf eine detaillierte Analyse der darin vertretenen Artenspektren an, sondern allein auf die Erfahrung, dass es gerade im Lebensraum Wasser außerordentlich kleine und meist auch sehr zahlreiche Lebewesen gibt, für die wir meist nicht einmal einen deutschen Namen haben, aber sie vermitteln eine erste Vorstellung von den tatsächlichen Abmessungen. Für genauere Nachforschungen empfiehlt sich das Werk von Streble und Krauter (2008).

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