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Zeugnisse: Wie objektiv sind die Schulnoten?
Jedes Jahr im Juni, Juli und August werden die Schülerinnen und Schüler aller Jahrgangsstufen in die Sommerferien entlassen. Doch bevor die freie Zeit beginnt und die Kinder und Jugendlichen wahlweise surfen gehen, mit ihren Eltern andere Länder erkunden oder ins Freibad gehen, werden in der letzten Schulwoche die Jahresabschlusszeugnisse ausgeteilt. Die damit vergebenen Schulnoten sollen zeigen, wie gut die schulischen Leistungen sind und wo Verbesserungsbedarf besteht. Gleichzeitig kann das Zeugnis, vor allem für die Abschlussklassen, die Türen für eine berufliche Laufbahn öffnen, aber auch verschließen.
Schulnoten von 14.000 Neuntklässlern verglichen
Umso wichtiger ist es, dass die Schulnoten die Leistungen der Schulkinder und Jugendlichen möglichst objektiv und vergleichbar bewerten. Ob das der Fall ist oder ob Lehrer bei der Vergabe der Schulnoten möglicherweise bestimmte Schülergruppen bevorzugen, haben nun Sandra Gilgen von der Universität Zürich und Richard Nennstiel von der Universität Bern untersucht. Dabei fokussierten sie sich besonders auf die Frage, inwiefern Geschlecht, Body-Mass-Index (BMI), sozioökonomischer Status der Eltern und ethnischer Hintergrund bei den Jugendlichen zu einer Bevorzugung oder Benachteiligung bei der Bewertung durch die Lehrkräfte führten.
Um sicherzugehen, dass Schüler mit schlechteren Noten tatsächlich unfair bewertet werden und nicht einfach leistungsschwächer sind, verglich das Team die Noten von knapp 14 000 Schülerinnen und Schülern der neunten Klasse mit deren Leistungen in zwei verschiedenen sogenannten Kompetenztests. „Wir nutzten einen Test für die allgemeinen kognitiven Funktionen, sowie einen bereichsspezifischen Kompetenztest als objektive Maßstäbe für die kognitive Fähigkeit der Schüler“, berichten Nennstiel und Gilgen.
Schlanke, weiße, reiche Mädchen in der Bewertung bevorzugt
Die Auswertung ergab: Tatsächlich sind Lehrkräfte bei der Vergabe der Zeugnisnoten nicht vollkommen objektiv. Stattdessen neigen sie dazu, Kinder mit bestimmten Merkmalen schlechter zu bewerten. Beispielsweise hatten Kinder mit einem höheren BMI oder einer schlechteren sozialen Herkunft in allen Fächern schlechtere Noten, als sie eigentlich gemessen an den Kompetenztests verdienten. Auch Schüler, die einer ethnischen Minderheit angehörten, wurden in allen Fächern außer Biologie benachteiligt. Mädchen hatten zudem einen unfairen Vorteil in Deutsch, Mathematik und Biologie, während die Jungen in Physik besser abschnitten.
Die Unterschiede blieben sogar bestehen, nachdem die Forscher weitere Variablen, die die Noten beeinflussen könnten, ausschlossen, darunter häufige Krankheitsfälle, Essstörungen, Sitzenbleiben oder Persönlichkeitsmerkmale wie Fleiß und Gewissenhaftigkeit. „Wir interpretieren diese Ergebnisse als einen starken Indikator für eine bestehende Verzerrung der Benotung, die verschiedene Gruppen von Schülern in Abhängigkeit von ihrem Geschlecht, Körpergewicht, sozioökonomischen und ethnischen Hintergrund in deutschen Sekundarschulen in allen fünf untersuchten Fächern betrifft“, so Nennstiel und Gilgen.
Diskriminierende Effekte addieren sich
Doch was passiert, wenn mehrere Faktoren, also etwa ein schlechterer sozioökonomischer Status, Migrationshintergrund und Übergewicht zusammentreffen? Die Effekte könnten sich bei der Notenvergabe gegenseitig abschwächen, sie könnten sich aber auch addieren. Wenn also Übergewichtige und Jungs beispielsweise im Schnitt einen halben Notenpunkt schlechter benotet werden als der Durchschnitt – wird ein übergewichtiger Junge dann einen ganzen Notenpunkt schlechter bewertet, oder mehr oder weniger?
Das Ergebnis hier: Die Effekte scheinen sich zu addieren. Wenn ein Schüler also mehrere benachteiligende Merkmale auf sich vereint, erhält er unabhängig von seinen tatsächlichen Fähigkeiten deutlich schlechtere Noten als seine Mitschüler. Abgesehen davon sind die Einflüsse der untersuchten Eigenschaften auf die Notenvergabe aber vergleichbar. Ein Mädchen mit Migrationshintergrund wird also ähnlich stark diskriminiert, wie ein Junge ohne Migrationshintergrund.
Benotungsschemata für die faire Notenvergabe
Am stärksten unterschieden sich die Noten von bevorzugten und benachteiligten Jugendlichen im Fach Deutsch. „Eine mögliche Erklärung für dieses Ergebnis ist, dass Lehrkräfte hier mehr Freiheiten bei der Bewertung haben als bei Fähigkeiten in Mathematik oder Naturwissenschaften, wo klarer zwischen einer richtigen und einer falschen Antwort unterschieden wird“, vermuten die Forschenden. Doch sie haben einen Lösungsvorschlag: Ein festes Benotungsschemata in allen Fächern könnte Lehrer motivieren, objektivere und somit auch gerechtere Noten zu verteilen.
Da Jugendliche mit guten Noten auch später im Leben bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, ist gerade eine gerechte Benotung in der Schule laut Nennstiel und Gilgen wichtig. „In Anbetracht ihrer zentralen Rolle ist es besonders wichtig, dass Noten nicht die Unterschätzung der Schüler durch die Lehrer widerspiegeln“, bemerken die Forscher. Die Forschenden fordern deshalb weitere Studien, die untersuchen, warum Lehrer noch immer unfair bewerten und was sich dagegen tun lässt.
Quelle: Universitäten Zürich und Bern