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Der Gleichgewichtssinn

Warum torkeln Betrunkene? Weshalb brauchen manche Schiffsreisende Brechbeutel? Wieso kann man beim Schwindel schwindeln? Die Antwort auf all diese Fragen liegt in unserem Gehirn verborgen: im Gleichgewichtsorgan.

Ohrsteine melden Lage ans Gehirn

Haben Sie schon mal einen zweibeinigen Tisch gesehen? Natürlich nicht der wäre auch unpraktisch, weil er umfallen würde. Möbel brauchen mindestens drei Stützen, sonst sind sie nicht standfest. Menschen jedoch können auf zwei Beinen stehen. Denn sie besitzen wie fast alle Lebewesen auf diesem Planeten ein Gleichgewichtsorgan, das sie in der gewünschten Position hält.

IMPRESSIONEN-VERSAND, WEDEL.

Der Gleichgewichtsapparat ist eine ganz alte Erfindung der Natur: Nicht nur Quallen, Fische und Lurche wissen, wo oben und wo unten ist. Sogar Pflanzen haben einen Sinn für den richtigen Stand: Knickt ein Halm um, merkt er das. Denn er besitzt kleine Klumpen in seinen Zellen, die immer nach unten sinken wie Zucker im Tee, der sich gerne am Boden absetzt, so gehorchen auch sie der Schwerkraft. Wird der Pflanzenstängel platt auf den Boden gedrückt, verrutschen die Zellpartikel innerhalb von wenigen Sekunden in eine neue Lage und signalisieren so der Pflanze, dass etwas nicht stimmt.

Die Idee mit den herumrutschenden Klumpen hat die Natur auch beim Menschen beibehalten: Wir haben kleine Steinchen im Ohr, die bei Bewegungen hin- und her wackeln. Die Ohrsteine (“Oto-Lithen) bestehen aus Kalziumcarbonat-Kristallen und lagern im Innenohr. Dort, ziemlich weit im Schädelinnern, sitzt ein Gebilde aus drei Bogengängen und zwei Säcken. Die Schlaufen-ähnlichen Bogen und die Säcke bilden das Gleichgewichtsorgan, den so genannten Vestibularapparat.

1 - Ampulla mit innen liegender Cupula, 2 - Knöcherne Bogengänge, 3 - Vestibularnerv, 4 - Utriculus, 5 - Sacculus, 6 - Felsenbein
wissen media Verlag GmbH, Gütersloh

Die Ohrsteine liegen in den zwei Säcken (“Utriculus und “Sacculus). Dort rieseln sie aber nicht hin und her wie bei den Pflanzen, sondern pappen in einer Gallert-Masse fest. In dieses Gel ragen kleine Haarzellen hinein.

Wenn wir uns abends ins Bett legen, rauscht unser Kopf in etwa drei Sekunden auf's Kopfkissen. Die Ohrsteinchen fallen natürlich mit. Allerdings verhalten sich die Kristalle etwas träge, weil sie schwer sind immerhin dreimal schwerer als Wasser: Deshalb bummeln sie der Kopfbewegung ein wenig hinterher und zerren so an der Gallertmasse, in der sie kleben. Dadurch verzieht sich die zähe Masse und verbiegt die darin sitzenden feinen Haarzellen. Diese Zellen leiten dann entsprechend der Stärke der Krümmung einen elektrischen Impuls über den Gleichgewichtsnerv ins Gehirn: Uns wird bewusst, dass sich unsere Lage geändert hat.

Wenn wir still liegen bleiben, merken wir nichts mehr. Denn dann ruhen die Otolithen wieder bequem und unbewegt in ihrem Gelkissen: Dadurch wird kein Impuls ausgelöst. Erst bei der nächsten Bewegung kommen auch wieder die Steinchen ins Rutschen.

In den Bogengängen gluckert eine Flüssigkeit, die Endolymphe. Auch sie ist träge wie die Ohrsteinchen: Drehen wir unseren Kopf, so braucht sie wenige Tausendstel Sekunden, um dem Kopfschlackern hinterher zu eilen. In diesem Zeitraum der Verzögerung schwappt das Ohrwasser nach hinten in eine der unteren Ausstülpungen der Bogengänge (“Ampulla). In dieser Verdickung sitzt die so genannte Cupula wie eine bewegliche Zunge in einem Schlauch. Weil die Endolymphe nach hinten drückt, wird die Zunge aus ihrer aufrechten Lage in eine Schieflage gezwungen.

Auch die Cupula besteht aus einer Gallertschicht, in der feine Haarzellen sitzen. Bei einer Schieflage verbiegen sich diese Zellen: Ein elektrischer Impuls wird ausgelöst und über verschiedene Zwischenstationen ans Großhirn weitergeleitet. Uns wird in diesem Moment bewusst, dass wir uns gedreht haben. Wie bei den Ohrsteinchen meldet uns der Drehsinn aus den Bogengängen nur dann etwas, wenn sich unsere Lage verändert hat, nicht aber, wenn wir unbewegt stehen, sitzen oder liegen.