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Die "gebaute" Utopie der klassischen Moderne

Zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Machtantritt der Nazis enstanden die sechs repräsentativen Wohnhaussiedlungen, mit denen die großen Architekten der klassischen Moderne eine Antwort auf die historisierenden Neo-Stile jener Zeit fanden und die seit 2008 zum deutschen Weltkulterbe zählen. Die denkmalgeschützten Siedlungen erfüllen nach Auffassung der UNESCO die Kriterien der "Einzigartigkeit" und der "Authentizität", weil sie einen ganz neuen Baustil verkörperten, der die Architektur nachhaltig beinflussen sollte. Den Vertretern der klassischen Moderne, darunter die Brüder Taut und Walter Gropius, war es endlich gelungen, eine sowohl ansprechende als auch soziale Lösung für die noch aus der Kaiserzeit stammende Wohnungsnot in der deutschen Hauptstadt zu liefern.

von Susanne Böllert, wissen.de

Modern, funktional - und bezahlbar

Insgesamt zählen zu den Weltkulturerbestätten der Berliner Moderne sechs repräsentative Siedlungen, entstanden in den Jahren 1913 bis 1934: die Gartenstadt Falkenberg (auch Tuschkastensiedlung genannt), die Siedlung Schillerpark, die Großsiedlung Britz, die Wohnstadt Carl Legien, die Weiße Stadt und die Großsiedlung Siemensstadt. Sie alle boten den Menschen der unteren sozialen Schichten ein völlig neues Lebensgefühl. Statt verschachtelter Hinterhöfe und Seitentrakte gab es plötzlich Licht, Luft und Sonne. Die Wohnungen, die mit eigenen Bädern, Balkonen und teilweise sogar mit kleinen Gärtchen punkten konnten, waren nicht nur modern ausgestattet und funktional geschnitten, sondern auch noch bezahlbar. Kombiniert mit der qualitativ hochwertigen Bauweise und der modernen Formensprache fanden die neuen Wohnsiedlungen auch im Ausland bald Nachahmer.

Soziale Ideale fließen in die Architektur mit ein

Der vielleicht bedeutendste Aspekt der Siedlungen der Berliner Moderne war sicherlich, dass nicht nur ästhetische Kriterien die neue Architektur beeinflussten, sondern vor allem auch die sozialen Ideale der politischen Linken. Nicht selten lag die Umsetzung dieser "gebauten Utopie" deshalb auch in der Verantwortung von gewerkschaftlichen, genossenschaftlichen und städtischen Baugesellschaften. Wohltuend setzten sich ihre farbenfrohen, liebevoll gestalteten Häuser - wie vor allem bei der ältesten Siedlung, der Tuschkastensiedlung von Bruno Taut, zu beobachten, von den grauen Mietskasernen der privatwirtschaftlichen Bauspekulation ab. Obwohl die von einer allgemeinen Aufbruchstimmung geprägte Kunst- und Kulturepoche zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Machtergreifung der Nationalsozialisten nur wenige Jahre währte, reichte sie doch, um einen historischen Wendepunkt in Städtebau und Wohnungswesen zu markieren.

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