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Exportschlager Grundgesetz
Als die Abgeordneten des Parlamentarischen Rats am 8. Mai 1949 das Grundgesetz beschlossen haben, war die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten gerade vier Jahre vorbei. Es entstand vor dem Hintergrund der Erfahrung, dass die Demokratie vor inneren Feinden geschützt werden muss: Der Vorrang der Grundrechte, die Festschreibung des demokratischen und sozialen Bundesstaates sowie die Etablierung eines höchsten Gerichts, das über die Einhaltung der Verfassung wacht, wurden deshalb zu Grundpfeilern der deutschen Demokratie. Und die Rechnung ging auf: Das Grundgesetz brachte Freiheit und Stabilität und gilt auch heute noch – mehr als 60 Jahre später – als ein Erfolgsmodell.
Vorrang der Menschenrechte
Herausragende Bedeutung haben nach wie vor die im Grundgesetz verankerten Grundrechte – und hier vor allem Artikel 1 Absatz 1, wo die Würde des Menschen für unantastbar erklärt wird. Diese Norm, die die Respektierung der Menschenrechte als höchstes Gut der Verfassungsordnung herausstellt, besitzt besonderen Vorbildcharakter. Dies zeigt sich auch daran, dass der Satz wortwörtlich in die europäische Grundrechtscharta übernommen wurde.
Das Grundgesetz als Erfolgsmodell in jungen europäischen Demokratien
Sucht man nach der Handschrift der deutschen Verfassung, wird man auf der ganzen Welt fündig: Neuseeland hat die personalisierte Verhältniswahl vom deutschen Wahlrecht übernommen, Südafrika hat sich am föderalen System orientiert und auch junge Demokratien in Südamerika haben sich manches am Grundgesetz abgeschaut. Dennoch war und ist das Grundgesetz vor allem für viele europäische Staaten attraktiv. Und das nicht ohne Zufall. Nach dem Ende der Diktaturen in Portugal, Griechenland und Spanien in den 1970er Jahren, wurde nach Deutschland geblickt: In ein Land, in dem die geltende demokratische Verfassung zwar noch vergleichsweise jung war, sich aber bewährt hatte. Wie in Deutschland wurden in Spanien dem Staatsoberhaupt aus der Erfahrung der Vergangenheit heraus enge Grenzen gesetzt, genauso wie der spanische Regierungschef nur dann durch ein Misstrauensvotum gestürzt werden kann, wenn das Parlament gleichzeitig einen Nachfolger wählt. Das konstruktive Misstrauensvotum gilt heute auch in Ungarn, Polen und Slowenien. Als nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 in den jungen osteuropäischen Demokratien neue Verfassungen entstanden, war es wiederum das Grundgesetz, das vielerorts als Vorlage diente. Hat es doch dem Recht einen eindeutigen Vorrang vor staatlicher Willkür eingeräumt.
Das Bundesverfassungsgericht als mächtigstes Gericht der Welt
Die starke Stellung des deutschen Verfassungsgerichts, das von den deutschen Verfassungsmüttern und -vätern zur Verteidigung der freiheitlich demokratischen Grundordnung bis zum Parteienverbot ermächtigt wurde, ist beispiellos. Dadurch wurde das Gericht in Karlsruhe zum mächtigsten Verfassungsgericht der Welt. Weltweit blickt man interessiert auf das unabhängige Verfassungsorgan, das nicht nur bei Differenzen zwischen Bund und Ländern, sondern auch zwischen Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat entscheidet. Die Karlsruher Richter prüfen Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit und sind mit der Verfassungsbeschwerde für jeden Bürger erreichbar. Das hat den Verfassungshütern freilich nicht nur Lob eingebracht. Kritik kommt immer wieder von Politikern, deren Gesetze vom Bundesverfassungsgericht gekippt werden. Legendär ist in diesem Zusammenhang der Ausspruch des ehemaligen Bundeskanzler Adenauers. „Dat ham wir uns so nich vorjestellt“, soll dieser gesagt haben, als 1952 das Bundesverfassungsgericht seine Wiederbewaffnungspläne zu stoppen drohte. Auch wenn heute immer wieder Stimmen laut werden, die die zunehmende gesetzgeberische Funktion der Karlsruher Verfassungswächter und die Entwicklung hin zum Justizstaat anmahnen, ist eines unbestritten: Die starke Stellung des Bundesverfassungsgerichts ist ein Garant gegen politischen Machtmissbrauch und für eine funktionierende Gewaltenteilung. Das ist auch der Grund, warum es in Ländern wie Spanien, Tschechien und Slowenien als Vorlage diente.
Eine Verfassung kann nicht beliebig exportiert werden
Dennoch kann keine Verfassung ihre eigenen Voraussetzungen garantieren, wie der frühere Bundesverfassungsrichter Böckenförde einmal gesagt hat. Das bedeutet nichts anderes, als dass man eine Verfassung nicht beliebig exportieren kann, weil auch historische Entwicklungen und unterschiedliche Rechtstraditionen bei der Entstehung einer Verfassungsordnung eine Rolle spielen. Dazu gehört zum Beispiel die Haltung, dass in einer Demokratie verschiedene Weltanschauungen und Meinungen nicht nur geduldet, sondern auch erwünscht sind. Dass das Grundgesetz in Deutschland zu einer Erfolgsgeschichte wurde, hängt also auch damit zusammen, dass es in den vergangenen 60 Jahren Symbol einer bundesrepublikanischen Identität geworden ist.