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Im Gespräch: Prof. Dr. Hartmut Göbel, Chefarzt der Schmerzklinik Kiel
"Migräne sind Kopfschmerzen, auch wenn man gar keine hat", schrieb einst Erich Kästner. Über solche Sätze können Migräne-Patienten nicht lachen. Prof. Dr. Hartmut Göbel ist Chefarzt der neurologisch-verhaltensmedizinischen Schmerzklinik Kiel. In seinem Buch "Erfolgreich gegen Kopfschmerzen und Migräne" widerlegt er Vorurteile und zeigt Wege, die Schmerzspirale zu stoppen.
Überreizte Nerven
54 Millionen Menschen in Deutschland leiden zeitweise unter Kopfschmerzen. 38 Prozent der Betroffenen werden von regelmäßigen Migräne-Attacken heimgesucht. Ist Migräne eine Zivilisationskrankheit?
Die Schmerzen und die Begleitsymptome der Migräne sind die Endergebnisse einer Folge verschiedener Zwischenstufen. Grundlage der Migräne ist eine sehr schnelle und impulsive Verarbeitung von Reizeinwirkungen auf das Nervensystem. Die Fähigkeit, Reizeinwirkungen schnell zu verarbeiten ist durch die Erbanlagen bedingt. Es gibt Menschen, die Sinneseindrücke und Gefühle wenig anfechten. Sie filtern diese aus der Wahrnehmung aus, das Gehirn muss nicht darauf reagieren, die elektrischen und biochemischen Abläufe im Gehirn werden nicht beschleunigt oder gar überaktiviert.
Anders ist das bei Migränepatienten: Sie sehen die Arbeit, erledigen sie, spüren Konflikte und machen sich Sorgen, hören den Wasserhahn bereits drei Zimmer entfernt tropfen, nehmen Sinneseindrücke sofort wahr und grübeln darüber nach etc. Immer dann, wenn nun äußere Reize wie Lärm, Licht, Gerüche, Wetterwechsel oder innere Reize wie Hormonschwankungen, Emotionen, Muskelverspannungen zu schnell, zu plötzlich, zu intensiv oder zu lange einwirken, wird das Gehirn zu stark aktiviert: Elektrische und biochemische Vorgänge entgleisen. Unsere große Reizüberflutung in unserer Zeit spielt daher eine Rolle bei der Auslösung von Kopfschmerzen, die Ursache der Migräne ist die Zivilisation jedoch nicht.
Muss man sich mit den Schmerzen abfinden?
Man sollte Schmerzen nie hinnehmen und sich schon gar nicht damit abfinden. Die Therapie zielt zunächst darauf ab, die plötzlichen und übermäßigen Steuerungsvorgänge im Gehirn zu vermeiden. Essentiell ist die Planung eines regelmäßigen Tagesablaufes, denn ein unregelmäßiger Schlaf-Wach-Rhythmus sowie unregelmäßige Einnahme von Mahlzeiten gelten als wichtigste Migräneauslöser. Entspannungsverfahren, wie die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson, können helfen, Stresssituationen zu meistern und damit effektiv Migräneattacken vorbeugen. Das Verfahren basiert auf einer aktiven Wahrnehmung von Anspannung und Entspannung und befähigt, aktiv in Anspannungssituationen eine möglichst tiefe Entspanntheit herbeizuführen.
Bei der Behandlung von Migräne ist es immer wieder erstaunlich, wie schwierig es für die Patienten ist, Stress, Anspannung, Überlastung oder Verspannung im Vorfeld wahrzunehmen und die Überlastung zu vermeiden. Reizverarbeitungstraining oder Stressimpfungstraining helfen, dies zu verändern. Durch Biofeedback sind die Patienten in der Lage, die körperliche Anspannung direkt zu sehen und auf die Überaktivität einzuwirken. Da solche Methoden nicht überall verfügbar sind, haben wir zur einfachen Anwendung im Alltag spezielle CDs entwickelt, die über einen Kopfhörer gehört werden können und eine effektive Entspannung ermöglichen. Es gibt diese in Form der klassischen Muskelrelaxation nach Jacobson. Die multimediale Entspannung, ein weiteres Verfahren, dass über CD gelernt und geübt werden kann, vermittelt zudem durch Imaginationen und akustische Suggestionen die Regeln für eine gleichmäßige Reizverarbeitung und Schutz des Nervensystems vor übermäßiger Aktivierung.