Lexikon
Nordirlandkonflikt
die die Geschichte Nordirlands prägende Auseinandersetzung zwischen der katholischen und protestantischen Bevölkerungsgruppe.
Historische Entwicklung
Wurzeln des Konflikts
Die Wurzeln des Konflikts liegen im 17. Jahrhundert: Seit 1608 siedelte der englische König Jakob I. eine größere Zahl englischer und schottischer Kolonisten in Ulster, der Nordost-Provinz Irlands, an. Die protestantischen Neusiedler sollten die englische Herrschaft im katholischen Irland nach mehreren weit reichenden Rebellionen stabilisieren helfen. Daran und an dem bedrückenden englischen Regiment entzündete sich 1641 ein allgemeiner Aufstand des katholischen Irlands, der sich zunächst vor allem gegen die protestantischen Siedler richtete, von denen rd. 12 000 (ein Drittel) getötet wurden. Die Massaker dienten dem Lord Protector von Großbritannien, Oliver Cromwell, 1649 dazu, gegen Irland einen brutalen Vergeltungsfeldzug zu unternehmen. Endgültig etablierte sich die britisch-protestantische Herrschaft über Irland durch den Sieg Wilhelms III. von Oranien, König von England nach dem Sturz Jakobs II. 1688, über seinen katholischen Vorgänger in der Schlacht am Fluss Boyne (12.7.1690; noch heute offizieller Feiertag in Nordirland).
Die Entwicklung bis zum 1. Weltkrieg
1801 wurden Großbritannien und Irland staatsrechtlich zum United Kingdom zusammengeschlossen. Gegen die dennoch weiter bestehende Diskriminierung der irisch-katholischen Bevölkerungsmehrheit wandten sich die „Catholic-“ und die „Repeal“-Bewegung (repeal = Rücknahme, d. h. des Unionsgesetzes) unter D. O’Connell, einem der ersten katholischen Rechtsanwälte Irlands; letztere wollte mit friedlichen Mitteln eine Loslösung Irlands aus dem Vereinigten Königreich erreichen. Das war auch das Ziel der 1870 gegründeten „Home-Rule“-Organisation, die im liberalen Premierminister W. E. Gladstone einen Fürsprecher fand. Auf den bewaffneten Kampf gegen die britische Herrschaft hingegen setzte die „Irish Republican Brotherhood“ (auch „Fenier“ genannt) seit den 1850er Jahren.
Aus der Furcht heraus, in einem unabhängigen Irland unterdrückt zu werden, verfestigten sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Ideologie und Organisationsstrukturen des protestantischen Unionismus, der den Erhalt der staatlichen Union forderte. Die Basis des Unionismus lag vor allem in Ulster; Beistand erhielt er von der Konservativen Partei Großbritanniens. Seinen Höhepunkt erreichte die Auseinandersetzung in den Jahren vor 1914: Weil die regierende Liberale Partei den Iren eine begrenzte Unabhängigkeit versprochen hatte, rüsteten die Unionisten eine Bürgerkriegsarmee aus („Ulster Volunteer Force“), der auf katholischer Seite die „Irish Volunteers“ gegenüber standen. Nur der Beginn des 1. Weltkriegs verhinderte einstweilen den offenen Ausbruch des Konflikts.
Nach der Unabhängigkeit Irlands
1921 entließ die britische Regierung unter D. Lloyd George nach einem zweijährigen Unabhängigkeitskrieg den größten Teil Irlands in die Selbstständigkeit (Saorstat Éireann, Freistaat Irland). Die sechs mehrheitlich protestantischen Grafschaften in Ulster hingegen verblieben im Vereinigten Königreich, mit eingeschränkter Autonomie: Sie erhielten ein eigenes Zweikammer-Parlament (nach dem Tagungsort Stormont genannt) und eine eigene Regierung. Bis zur Aufhebung der Autonomie durch Großbritannien 1972 stellte stets die Ulster Unionist Party (UUP), die Vertretung der protestantischen Bevölkerung, die Regierung. Die katholische Minderheit sah sich etlichen rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Benachteiligungen ausgesetzt. Eine wirkungsvolle Opposition entstand jedoch erst in den 1960er Jahren, zu einer Zeit, als der nordirische Premierminister T. O’Neill eine erste vorsichtige Liberalisierung betrieb. Nach dem Vorbild der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gründete sich 1967 die „Northern Ireland Civil Rights Association“ (NICRA), eine Dachorganisation zahlreicher katholischer Bürgerrechtsverbände. Deren Protestmärsche wurden von den nordirischen Sicherheitsorganen und protestantischen Radikalen attackiert, was wiederum gewalttätige Reaktionen katholisch-nationalistischer Gruppen hervorrief.
Eskalation der Gewalt
Seit 1969 eskalierte die Gewalt. Die britische Regierung unter H. Wilson, die wie ihre Vorgängerinnen die Zustände in Nordirland weitgehend ignoriert hatte, sah sich nun zum Eingreifen gezwungen und sandte größere Truppenkontingente, welche die streitenden Parteien trennen sollten. Aber schon bald wurde auch die britische Armee Ziel nationalistischer Terrorakte, verübt vor allem von der „Provisional Irish Republican Army“ (PIRA), einer extremistischen Abspaltung der 1919 gegründeten IRA, die für den Anschluss Nordirlands an eine irische Republik kämpfte.
Nach dem sog. Blutsonntag (Bloody Sunday), als am 30. 1. 1972 Fallschirmjäger das Feuer auf einen Protestzug in Londonderry eröffneten und 14 Demonstranten erschossen, versank Nordirland in einem Bürgerkrieg mit zwei Kampflinien: Zum einen zwischen nationalistischen und unionistisch-loyalistischen Terrorgruppen (z. B. der „Ulster Defence Association“, UDA); zum anderen zwischen Nationalisten und Sicherheitsorganen (Polizei, Armee), mit etlichen Bombenanschlägen auch in Großbritannien. Dem Konflikt fielen insgesamt über 3300 Menschen zum Opfer, rund 42 000 wurden verwundet.
Angesichts der anarchischen Zustände hob die britische Regierung unter E. Heath 1972 den Autonomiestatus der Provinz auf und übernahm selbst die direkte Exekutivgewalt. Die folgenden Jahre waren gekennzeichnet von dem Versuch, einen Ausgleich zwischen den verfeindeten Gruppen zu schaffen („power-sharing“) und die Selbstverwaltung schrittweise nach Nordirland zurückzuverlagern („devolution“). Dabei wurde auch die irische Regierung eingebunden, der Großbritannien 1985 ein Mitspracherecht an der Entwicklung der Provinz einräumte („Anglo-Irish Agreement“). Diese Vorstöße (z. B. Einsetzung einer Regionalversammlung nach dem „Sunningdale“-Abkommen von 1973, weiterer Versuch 1982) scheiterten jedoch am Widerstand der Radikalen in beiden Lagern.
Der lange Weg zum Frieden
Seit 1991 führte die britische Regierung Friedensgespräche mit den wichtigsten Parteien Nordirlands, den unionistischen Kräften UUP und Democratic Unionist Party (DUP) sowie der gemäßigt nationalistischen Social Democratic and Labour Party (SDLP), und verhandelte gleichzeitig insgeheim mit Sinn Féin, dem politischen Arm der IRA.
1996 begonnene Allparteien-Gespräche stockten immer wieder, weil die IRA weiterhin Bombenanschläge verübte und sich weigerte, ihre Waffen abzuliefern. Erst 1997 erklärte die IRA eine unbefristete Waffenruhe, sodass Sinn Féin zu den Verhandlungen zugelassen wurde. Unter dem starken Druck des britischen und des irischen Premierministers (T. Blair bzw. B. Ahern) sowie des US-Präsidenten B. Clinton unterzeichneten die Parteien am 10. 4. 1998 ein Friedensabkommen (Karfreitagsabkommen), das in Volksbefragungen sowohl in Nordirland als auch in der Republik Irland bestätigt wurde. Auf der Grundlage des Abkommens mit dem u. a. auch die Entwaffnung der paramilitärischen Verbände, eine Amnestie für deren Angehörige sowie der Abbau der britischen Militärpräsenz vereinbart wurden, wählte die nordirische Bevölkerung im Juni 1998 eine Regionalversammlung mit 108 Abgeordneten als Legislative, in der die UUP u. die SDLP die meisten Sitze gewannen. Die Regierungsbildung zog sich allerdings lange hin, weil die IRA sich abermals weigerte, mit ihrer Entwaffnung zu beginnen. Insbesondere deshalb stieß das Karfreitagsabkommen in weiten Teilen der protestantischen Bevölkerung auf Vorbehalte; besonders in der DUP und dem Oranierorden.
Nach schwierigen Verhandlungen konnte die Regierungsbildung schließlich Ende November 1999 abgeschlossen werden (Koalition aus UUP, SDLP, Sinn Féin und DUP). Erst im Dezember 1999 übertrug das britische Parlament die volle Amtsgewalt auf die nordirische Regionalversammlung. Das Amt des Ersten Ministers übernahm der bereits 1998 gewählte D. Trimble von der UUP (der zusammen mit dem Vorsitzenden der SDLP, J. Hume, 1998 den Friedensnobelpreis erhalten hatte). Das irische Parlament bestätigte den Verzicht auf den in der Verfassung verankerten Anspruch auf Nordirland. Großbritannien verpflichtete sich im Gegenzug zur Aufhebung des Government of Ireland Act von 1920, der die Teilung Irlands festschrieb. Damit erhielt Nordirland erstmals nach 27 Jahren wieder die Selbstverwaltung.
Da in der Frage der Entwaffnung der IRA aber keine Fortschritte erzielt werden konnten, wurden die nordirische Regierung und die nordirische Regionalversammlung von Februar bis Mai 2000 suspendiert. Aufgrund desselben Problems trat Trimble zum 1. 7. 2001 als nordirischer Regierungschef zurück. Nachdem die IRA im Oktober 2001 mit der Zerstörung ihrer Waffenarsenale begonnen hatte, wählte das Parlament Trimble am 6. 11. 2001 erneut zum Ersten Minister. Nach Berichten über Spionageaktivitäten der IRA innerhalb des britischen Nordirlandministeriums suspendierte die Londoner Regierung 2002 abermals die nordirische Selbstverwaltung, um den Rückzug der UUP aus der regionalen Exekutive zu verhindern. Daraufhin stellte die IRA die Zusammenarbeit mit der Abrüstungskommission ein. Im November 2003 fanden die mehrfach verschobenen Wahlen zum nordirischen Parlament statt, aus der die radikalen Kräfte Sinn Féin und DUP als stärkste Parteien der beiden Lager hervorgingen. Verhandlungen über eine Regierungsbildung scheiterten mehrfach, die Selbstverwaltung blieb suspendiert. Ende Juli 2005 erklärte die IRA das Ende des bewaffneten Kampfes; im September 2005 gab die Abrüstungskommission bekannt, die IRA habe ihre Waffen vollständig unbrauchbar gemacht.
Nach neuerlichen Wahlen zum nordirischen Parlament 2007 einigten sich die radikalen Parteien Sinn Féin und Democratic Unionist Party auf eine politische Zusammenarbeit. Dadurch erhielt Nordirland wieder die Selbstverwaltung. Der protestantische Politiker Ian Paisley wurde nordirischer Regierungschef (Erster Minister), zog sich aber im Juni 2008 aus der Politik zurück. Das Amt des Ersten Ministers und des DUP-Vorsitzenden übernahm Peter Robinson.
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