wissen.de Artikel
Prostitution – eine Welt voller Mythen
Unterjocht und ausgebeutet?
Glaubt man zahlreichen Medienberichten, dann geht es den meisten Prostituierten außerordentlich schlecht. Den Darstellungen zufolge sind Sexarbeiterinnen unter massiver Gewalt zur Prostitution gezwungene Frauen, die schon in der Kindheit misshandelt wurden und heute, drogensüchtig, depressiv und von geldgierigen Menschenhändlern abhängig, keine andere Wahl haben, als gegen ihren Willen und ohne nennenswerten Profit ihren Körper zu verkaufen.
Gegen dieses Bild ihres Berufsstandes wehrt sich Johanna: "Natürlich gibt es Zwangsprostitution – ich verwende lieber den juristischen Begriff ‚Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung’. Das ist ein Straftatbestand. Ich möchte das Leid dieser Frauen gar nicht kleinreden. Aber selbst wenn man annimmt, dass es der Polizei trotz zahlreicher Razzien nicht gelingt, diese Frauen zu finden, und deshalb die Dunkelziffer neunmal höher als die aktenkundigen Fälle ansetzt, kommt man am Ende darauf, dass das nur einen sehr, sehr geringen Teil der Prostituierten in Deutschland ausmacht." Die Mathematik gibt Johanna recht: Rund 650 Fälle von Zwangsprostitution werden in Deutschland jedes Jahr registriert. Ihnen stehen vermutlich rund 200.000 Sexarbeiterinnen gegenüber, manche Schätzungen gehen sogar von 400.000 aus. In den Medien allerdings werde Prostitution häufig vorschnell mit Zwangsprostitution gleichgesetzt, beobachtet Johanna.
Medienberichte, die Johannas Einschätzung belegen, finden sich regelmäßig. So behaupteten zum Beispiel nach der Vorstellung eines statistischen EU-Berichts über Menschenhandel in Europa im April 2013 die Titelzeilen mehrerer renommierter Zeitschriften und Zeitungen, darunter die Süddeutsche und die WELT, dass Menschenhandel und Prostitution in Europa stark steigen würden – obwohl in dem Bericht überhaupt keine Zahlen zur Prostitution nachzulesen waren.
Ruf nach neuen Gesetzen
Stein des Anstoßes ist in der öffentlichen Debatte vor allem das Prostitutionsgesetz, das in Deutschland seit 2002 gilt. Es soll Prostituierte schützen und ihre rechtliche Stellung stärken. Es hat die Sittenwidrigkeit der Prostitution aufgehoben und ermöglicht den Frauen zum Beispiel Zugang zur Krankenversicherung. Kritiker bemängeln allerdings, dass das Gesetz bisher wenig Erfolg gezeigt, dafür aber den Menschenhandel begünstigt habe, da die Behörden weniger Kontrollmöglichkeiten hätten. Sie möchten die rechtliche Lage verschärfen. Viele wollen, wie in Schweden, die Freier kriminalisieren. Ihr Grundtenor: Prostitution finde fast immer gegen den Willen der Frauen statt.
Den Standpunkt vertritt zum Beispiel die Feministin Alice Schwarzer, die Spiegel Online gegenüber erklärte: "Die Freiwilligkeit ist ein Mythos – kräftig genährt von denen, die von Menschenhandel und Prostitution profitieren. Und das sind zuallerletzt die Prostituierten selbst, die enden zu 95 Prozent als Sozialhilfeempfängerinnen." Auch der ehemalige Kriminalhauptkommissar und Menschenhandel-Ermittler Manfred Paulus weiß in der Stuttgarter Zeitung zu berichten, dass "98 Prozent der Frauen in der deutschen Prostitution fremdbestimmt" seien.
Fremdbestimmt bedeutet auch immer ein bisschen "unmündig" oder "nicht urteilsfähig". Liegt es vielleicht daran, dass so viel über Prostituierte, aber so selten mit ihnen geredet wird? Johanna jedenfalls fordert ein Mitspracherecht: "Es sind zum Beispiel neue Regelungen zur Konzessionierung von Bordellen im Gespräch. Viele davon sind gut gemeint, gehen aber völlig an unserer Lebensrealität vorbei, weil wir gar nicht gefragt wurden. Das wollen wir ändern."
Unbekannte Welt Prostitution
Wie die Situation von Sexarbeiterinnen tatsächlich aussieht, wie viele von ihnen abhängig oder selbstbestimmt sind oder auch wie es um ihre Gesundheit bestellt ist, weiß niemand genau zu sagen – aktuelle, repräsentative Studien sind rar, weil sie extrem kompliziert durchzuführen sind. Einige Untersuchungen legen nah, dass Prostituierte überdurchschnittlich häufig Gewalt ausgesetzt sind und als Kinder misshandelt wurden. Allerdings wurden dafür meist nur wenige Frauen befragt, häufig war der Anteil bestimmter Gruppen – etwa der Beschaffungsprostituierten – extrem hoch. Wie Escort-Damen oder Prostituierte, die in selbst angemieteten Appartements arbeiten, ihre Lage sehen, bleibt oft unberücksichtigt.
Um eine differenziertere Sicht hat sich das von der EU geförderte, aber von den Medien wenig beachtete Projekt "Indoors" bemüht. Es hat die Lebenssituation Prostituierter in neun europäischen Städten unter die Lupe genommen, darunter auch in Hamburg. Allein hier haben die Mitarbeiter der Studie 432 Frauen am Arbeitsplatz persönlich aufgesucht und dabei sorgfältig auf eine breite Mischung an verschiedenen Arbeitsplätzen – Laufhaus, Bordell, Appartement – geachtet. Immerhin 40 Prozent der befragten Frauen, so die Studie, hätten nachweislich freiwillig gearbeitet, über den Rest könne man keine Aussage treffen, unter anderem, weil die Kontakte zu kurz waren. Von Gewalterfahrungen berichteten lediglich zehn der befragten Sexarbeiterinnen. Allerdings sind die Autoren vorsichtig bei der Interpretation dieser Zahl: "Dieses Ergebnis kann auf zwei Arten gelesen werden: dass Gewalt in der Hamburger Szene nicht häufig vorkommt oder dass sie so sehr im Verborgenen stattfindet, dass zuverlässige Informationen nicht zugänglich sind." Die Annahme, dass Prostitution fast ausschließlich unter Zwang stattfinde, konnte die Studie nicht belegen.
"Der klassische Zuhälter stirbt aus, weil wir heute ganz anders arbeiten", meint auch Johanna, die häufig in anderen Städten arbeitet und Bordelle und Sexarbeiterinnen in ganz Deutschland kennt. Sie gesteht aber zu: "Nur weil so gut wie alle freiwillig arbeiten, heißt das aber natürlich nicht, dass alle diese Arbeit gleich gern machen. Das ist bei uns genauso wie in anderen Berufen. In meinem Freundeskreis gehen viele einem ganz normalen Bürojob nach, und kaum einer steht jeden Morgen auf und freut sich, dass er arbeiten gehen darf."
Dass Sexarbeit als Beruf gar nicht so unattraktiv ist, wie Politiker und Medien glauben machen wollen, legt übrigens auch eine Studie des Studienkollegs zu Berlin nah: Jeder dritte der befragten 3.253 Berliner Studierenden, so das überraschende Ergebnis, konnte sich vorstellen, selbst in der Sexarbeit tätig zu sein.