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Rot-Front: Deutsche in Kirgistan
Das Dorf mit dem Namen Rot-Front, das sich über gerade mal zwei Straßen erstreckt, gilt als letzte deutsche Siedlung in Zentralasien. Gelegen zwischen der Hauptstadt Bischkek und dem Yssyk-Köl-See grenzt Rot-Front an das Tienschan-Gebirge im Norden Kirgistans. Aneinandergereiht wie Perlen auf einer Kette stehen hier zwischen den Feldern Häuser, in denen etwa 1.000 Einwohner einen Platz zum Leben finden. Ob auf einem Grundstück deutsche Einwohner leben, sagen sie, soll am gemähten Rasen erkennbar sein.
1927 gründeten deutschstämmige Aussiedler das Dorf, welches damals noch Bergtal hieß. Diese Aussiedler waren Mennoniten. Um zu verstehen, wie es dazu kam, dass Deutsche ein Dorf im kirgisischen Nirgendwo gründeten, müssen wir zunächst ins 16. Jahrhundert reisen.
Eine beschwerliche Reise
Im 16. Jahrhundert entstand in Westeuropa die evangelische Freikirche der Mennoniten. Ihre Anhänger siedelten sich zunächst vor allem im heutigen Gebiet Deutschlands an. Weil sie es unter anderem ablehnten, im Militär zu dienen, und eine Trennung von Kirche und Staat verlangten, wurden die Mennoniten hier jedoch verfolgt und flohen ins Weichseldelta östlich von Danzig in Polen. Als das Gebiet Ende des 18. Jahrhunderts unter die Herrschaft von Westpreußen gelangte, wanderte etwa die Hälfte von ihnen nach Nordamerika und die andere Hälfte nach Russland aus.
In Russland hatte die Zarin Katharina die Große den Mennoniten Land zur Verfügung gestellt und ihnen eine gemeindliche Selbstverwaltung erlaubt. So kamen bis Mitte des 19. Jahrhunderts fast 2.000 mennonitische Familien in das Zarenreich. Ende des Jahrhunderts verloren sie ihren Sonderstatus als ausländische Siedler allerdings wieder. Daraufhin ließen sich einige Familien schließlich im Talas-Tal, etwa 200 Kilometer westlich von Bischkek in Kirgistan, nieder.
Durch einen rasanten Zuwachs der Bevölkerung erhielten 1925 einige mennonitische Familien zudem eine Ansiedlungserlaubnis für das Gebiet um das heutige Rot-Front. Doch ein friedliches Leben wurde ihnen auch dort nicht lange gewehrt: Immer wieder kam es zu Hungersnöten und ab 1938 durfte der Schulunterricht in Rot-Front nur noch auf Russisch und nicht wie zuvor auf Deutsch stattfinden. Während des Zweiten Weltkriegs mussten die deutschstämmigen Männer und Frauen Zwangsarbeit leisten. Kinder blieben ohne ihre Eltern zuhause, aber die Kirgisen versorgten sie.
Das Ende der Sowjetunion – das Ende von Rot-Front?
Nach dem Ende des Krieges erholte sich Rot-Front langsam von den Strapazen der vergangenen Jahrzehnte. Ende der 1960er Jahre erhielten die Bewohner schließlich sogar die Erlaubnis, ein sogenanntes Bethaus – das Gemeindehaus der Mennoniten, in dem sie ihre Gottesdienste feiern – zu errichten.
Dennoch zog es in den Folgejahren über 1.000 Einwohner des deutschgeprägten Dorfes in die Bundesrepublik. Die Sowjetunion erlaubte ihnen wegen ihrer deutschen Verwandten eine Aussiedlung. Mit dem Fall der Sowjetunion im Jahre 1991 verließen noch mehr Einwohner das Dorf nördlich des Tienschan-Gebirges, sodass heute nur noch etwa 20 deutschstämmige Einwohner in Rot-Front leben. Diese teilen sich das Dorf überwiegend mit kirgisischen Familien, die in den Häusern der Weggezogenen eine neue Bleibe fanden. Aber auch einige Russen hat es in die Gegend verschlagen.
So ist das Leben in Rot-Front heute
Und wie ist das Leben in Rot-Front heute? So religiös wie die Einwohner aufgrund ihrer mennonitischen Geschichte anfangs waren sind sie heutzutage nicht mehr. Das Bethaus ziert weiterhin den Ortseingang, ist jedoch nur durch eine kleine Aufschrift als solches erkennbar und erinnert eigentlich an ein ganz normales Wohnhaus. Der Gottesdienst findet heute ausschließlich auf Russisch statt. Trotzdem spielt in Rot-Front wie in vielen anderen religiös geprägten Gemeinden die Familie weiterhin eine große Bedeutung für die Einwohner und hohe christliche Feiertage wie Ostern und Weihnachten werden nach wie vor groß gefeiert.
Es mag zwar so wirken, als sei von der deutschen Geschichte in Rot-Front nicht mehr viel übrig, aber für die verbliebenen Deutschstämmigen spielt ihre Abstammung durchaus eine große Rolle. Besonders die Älteren versuchen, die deutsche Sprache am Leben zu halten, und auch in der Schule wird weiterhin Deutsch unterrichtet. Dennoch sprechen vor allem die Jüngeren vorwiegend Russisch und Kirgisisch.
Neben der Sprache hat sich auch der Lebensunterhalt der deutschstämmigen Einwohner gewandelt. Obwohl die Landwirtschaft historisch eine große Rolle in der Gegend spielt, arbeiten die deutschstämmigen Einwohner heutzutage zum Beispiel als Automechaniker, Lehrer oder in einer Botschaft. Ihnen ist wichtig, dass ihre Kinder eine Ausbildung machen. Nicht zuletzt deswegen ziehen viele Jüngere nach Deutschland.
Urlaub in der alten Heimat
Auch wenn die Bewohner von Rot-Front ihr Leben dort als schwerer als in Deutschland beschreiben und vor allem Jüngere das Dorf verlassen, zieht es ehemalige Einwohner regelmäßig zurück nach Rot-Front, um Verwandte und Freunde zu besuchen. Manche planen, im Rentenalter in ihre alte Heimat in Kirgistan zurückzukehren, und verkaufen deswegen ihre Häuser an den beiden Straßen nicht. Bis dahin halten sie über das Internet Kontakt – denn moderne Technologie ist den Einwohnern in keinem Fall ein Fremdwort.
Außergewöhnlich ist es hingegen, wenn jemand nach Rot-Front zieht, ohne Verwandte dort zu haben: Wilhelm Lategahn, ein Lehrer aus Soest, der 2010 im Rahmen eines Programms zur Förderung der deutschen Sprache und Kultur nach Rot-Front kam, gründete ein deutsches Museum. Dort zeigt und sammelt er Alltagsgegenstände der Deutschstämmigen und klärt über ihre Geschichte auf.
Und was war das jetzt mit dem gemähten Rasen?
Wer durch Rot-Front spaziert und mit wachsamem Blick über die Gärten streift, dem fällt vielleicht auf, dass manche Rasen feinsäuberlich geschnitten sind. Eine Sache, die die deutschen Einwohner nämlich von den kirgisischen unterscheiden soll, so behaupten sie über sich selbst, ist ihre Vorliebe für Ordnung. Manchmal sei das auch der Grund für kleinere Konflikte zwischen den beiden Parteien. So ganz scheinen die Deutschen – wie sich die deutschstämmigen Einwohner selbst bezeichnen – also ihre Eigenarten nie zu verlieren.