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Über Nacht

von Christel Baumgart

Schlaflos. Seit Tagen. Was soll ich im Bett? Ich kriege bei dieser Hitze sowieso kein Auge zu. Linke Seite, rechte Seite, Rückenlage. Decke zur Seite geschoben. Wieder zugedeckt, ich könnte mich ja erkälten, wenn der Schweiß abkühlt. Mir reicht es. Heute Nacht werde ich es gar nicht erst versuchen. Ich schlüpfe in ein dünnes Hemd und schlendere auf den Balkon. Ich rücke die beiden Stühle gegeneinander, lege die Auflagen darauf und mache es mir mit hochgelegten Beinen bequem. Die Nacht kann kommen. Ich werde sie nicht aus den Augen lassen.

Die Luft ist angenehm. Immer noch sehr warm, aber kein Vergleich zu der stickigen, stehenden Schlafzimmerluft. Tief dunkelblauer Nachthimmel in der linken Hälfte meines Panoramas. Nach rechts dagegen zunehmend heller, die Großstadt lässt grüßen. Gegenüber die beiden Nachbarhäuser: zwei Eingänge, jeweils sechs Parteien. Links davon eine riesige Tanne, nachtschwarz. Rechts, hinter einen Erdwall geduckt, ein kleines Einfamilienhaus. Wie vertraut mir das alles ist. Auf der moosigen Grasfläche liegen perspektivisch verzogene Lichtvierecke, Hinweise auf Bewohner neben und unter mir, aus deren Wohnzimmern dieser Schimmer fällt.

Es ist kurz vor elf. Gegenüber brennt nur in zwei Wohnungen Licht. Das ist nicht verwunderlich, denn ich blicke auf die Küchen- und Schlafzimmerfenster. Die meisten halten sich vermutlich noch in ihren Wohnzimmern auf, die nach der anderen Seite gelegen sind. Oder auf dem Balkon, so wie ich. Ich sollte mir etwas zu trinken holen. Später vielleicht.

Im Parterre rechts steht die dicke Frau am Herd. Wie jeden Abend ist sie mit Einkaufstüten beladen nach Hause gekommen und bereitet nun das Essen für den nächsten Tag vor. Zwischendurch räumt sie die Spülmaschine leer. Das fertige Essen füllt sie in Plastikbehälter, die sie im Kühlschrank stapelt. Vermutlich nimmt sie ihre Überlebenstupperdöschen anderntags mit ins Büro.

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