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Corona-Pandemie: Was sagt uns die Reproduktionszahl?
Wenn es um die Frage geht, ob auch Kitas bald wieder geöffnet werden könne, welches Risiko offene Kaufhäuser, Spielplätze oder Biergärten darstellen, kommt immer wieder eine Zahl ins Spiel: Die Reproduktionszahl. Neben der Zahl der mit SARS-CoV-2 Infizierten und den Todesfällen wird sie immer wieder von Experten wie Politikern als Maßzahl für den Erfolg der Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie genannt.
Die Basisreproduktionszahl – wenn das Virus sich ungehindert vermehrt
Doch was genau sagt diese Zahl aus? Die Probleme beginne schon bei den Begriffen, denn streng genommen gibt es zwei verschiedene Reproduktionszahlen: Die Basisreproduktionszahl R0 beschreibt die grundlegende Übertragbarkeit und ist eine Eigenschaft, die sich aus dem Verhalten des Virus selbst ergibt. Sie gibt an, wie viele andere Menschen ein mit diesem Erreger infizierter Mensch unter für das Virus günstigen Bedingungen ansteckt – also wenn es keine Gegenmaßnahmen oder Hygieneregeln gibt und wenn niemand in der Bevölkerung geimpft oder immun gegen das Virus ist.
So bedeutet eine Basisreproduktionszahl R0=2 beispielsweise, dass jeder Infizierte zwei weitere Personen mit dem Virus ansteckt. Diese stecken dann wieder jeweils zwei weitere Menschen an und so weiter. Insgesamt führt dies im Laufe der Zeit zu einer exponentiellen Zunahme der Infizierten. Ist die Basisreproduktionszahl eines Virus dagegen nur R0=1, würde sich dieser Erreger kaum ausbreiten. Weil jeder infizierte nur einen weiteren Menschen ansteckt, reicht dies gerade aus, um die Zahl der Infizierten gleich zu halten. Aus Sicht des Virus bedeutet dies: Er kann sich zwar in dieser Population halten, aber nur in extrem geringem Maße.
Maßzahl für die Übertragbarkeit
Im Verlauf einer Epidemie oder Pandemie kommt die Basisreproduktionszahl allerdings meist nur ganz am Anfang zum Tragen – wenn die Bevölkerung nicht auf diesen neuen Erreger vorbereitet ist und man noch keinerlei Gegenmaßnahmen ergriffen hat. Gleichzeitig aber liefert sie dann den Virologen und Epidemiologen wertvolle Hinweise darüber, wie ansteckend das Virus ist – beispielsweise im Vergleich zu schon bekannte Viren. Das ermöglicht eine erste Einschätzung der Ausbreitungsgefahr. So haben beispielsweise die hochansteckenden Masernviren eine R0 von 12 bis 18. Das aktuelle Coronavirus liegt dagegen Schätzungen zufolge bei 2,4 bis 3,3.
Diese grundlegende Übertragbarkeit hängt beispielsweise davon ab, ob ein Virus nur durch Körperflüssigkeiten wie Blut oder durch direkte Berührung auf einen anderen Menschen übergehen kann oder ob es auch durch die sogenannte Tröpfcheninfektion von Mensch zu Menschen gelangen kann. Dann reichen schon Husten, Niesen oder auch lautes Singen und Sprechen aus, um das Virus weiterzugeben – das ist aktuell bei SARS-CoV-2 der Fall. Beeinflusst wird die Übertragbarkeit aber auch davon, wie eng die Menschen in einer Bevölkerung zusammenleben.
Die effektive Reproduktionszahl – Kennzahl für die Eindämmung
Doch spätestens, wenn der Ausbruch einer neuen Infektionskrankheit erkannt wurde, beginnen die Gegenmaßnahmen. Im Falle von SARS-CoV-2 war dies vor allem die Quarantäne von Infizierten, die soziale Distanzierung durch Abstand alten, Ausgangssperren und geschlossene Schulen, Geschäfte oder Gaststätten und die Beschränkung von Reisen und Besuchen. Dadurch hat das Coronavirus deutlich weniger Chancen, sich weiter auszubreiten, denn wenn es selbst beim Flug mit den Hustentröpfchen ins Leere fällt, bleibt die Ansteckung aus.
Hier kommt nun die zweite Variante der Reproduktionszahl ins Spiel, die sogenannte effektive Reproduktionszahl. Sie gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter unter den momentan herrschenden Bedingungen ansteckt. Ziel der aktuellen Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie ist es dabei, diese effektive Reproduktionszahl möglichst unter 1 zu halten. Denn dann steigen die Fallzahlen nicht an und der Weg des Virus lässt sich noch halbwegs nachverfolgen.
Wie die Zahl berechnet wird
Aber wie ermittelt man die effektive Reproduktionszahl, wenn man nur die Meldungen darüber hat, wie viele Menschen an einem bestimmten Tag in Deutschland mit Covid-19 diagnostiziert wurden? Das Robert-Koch-Institut nutzt dafür ein bestimmtes Berechnungsverfahren, in dem die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen der letzten vier Tage mit denen der vier Tage davor verglichen wird.
Der Grund für die vier Tage als Vergleichszeitraum liegt im Verlauf der Infektion: Den aktuellen Annahmen zufolge beginnt ein mit dem Coronavirus infizierter Mensch am vierten Tag nach seiner Ansteckung, selbst infektiös zu werden. Er kann ab dem vierten Tag demnach selbst weitere Menschen anstecken. Forscher sprechen hier von der Generationszeit einer Infektion.
Warum der R-Wert allein täuschen kann
Das Problem jedoch: Die Zahl der gemeldeten Corona-Fälle spiegelt nicht unbedingt die tatsächliche Zahl der Infizierten wider – es gibt eine große Dunkelziffer. Diese hängt davon ab, wie ausgiebig und verbreitet Verdachtsfälle getestet werden. Bislang wurden meist nur Menschen mit typischen Covid-19-Symptomen auf das Coronavirus getestet. Wer zwar Kontakt mit Infizierten hatte, aber nicht oder nur leicht krank wurde, wurde oft nur in Quarantäne geschickt, ohne dass man überprüft hat, ob derjenige das Virus in sich trägt oder nicht. Diese Fälle tauchen in der Statistik daher gar nicht auf – die effektive Reproduktionszahl kann dadurch geringer erscheinen als sie ist.
Wenn man nun ab einem bestimmten Zeitpunkt anfängt, mehr zu testen, dann steigt die Zahl der gemeldeten Fälle und damit scheinbar auch die errechnete Reproduktionszahl. In Wirklichkeit aber muss sich das Ausbreitungstempo des Virus nicht geändert haben. Deshalb handelt es sich bei der effektiven Reproduktionszahl immer nur um eine Schätzung mit einem nicht unerheblichen Schätzfehler.
Deshalb muss diese Zahl immer mit Vorsicht interpretiert und durch andere Werte und Informationen ergänzt werden. Die Reproduktionszahl kann demnach zwar eine ersten Hinweis darauf geben, in welche Richtung sich eine Epidemie bewegt, aber als alleinige Kennzahl oder als Grundlage für Lockerungen oder Maßnahmenverschärfungen ist sie eher nicht geeignet.