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Kaspar Hauser: der Findling aus Nürnberg
Es war der 26. Mai 1828, als in den Straßen von Nürnberg ein seltsamer junger Mann erschien, der auf vielleicht sechzehn Jahre geschätzt wurde. Der Kleidung nach stammte er aus ärmlichen Verhältnissen, aber auffälliger war seine ungelenke Redeweise, als wenn er das Sprechen nie wirklich gelernt habe. Er behauptete, „Kaspar Hauser“ zu heißen und ein Reiter werden zu wollen. Hierzu führte er zwei Briefe mit sich. Der eine stammte von einem Tagelöhner, der angab, das Kind seit Oktober 1812 zu betreuen. Den anderen hatte ein „armes Mägdlein“ geschrieben, die das Geburtsdatum von Kaspar mit dem 30. April 1812 angab. Es heißt, der Vater habe als Reiter zum 6. Regiment gehört, weswegen Kaspar ebenfalls dorthin geschickt werden sollte.
Zunächst wurde der junge Mann für einen Landstreicher gehalten und in Haft genommen. Doch seine Geschichte zog schnell Kreise. Angeblich, so stellte sich bei vielen Gesprächen heraus, hatte Kaspar Hauser die vergangenen zehn oder zwölf Jahre in einem weitgehend abgedunkelten Raum verbracht und war nur während des Schlafs versorgt worden. Seine Nahrung soll nur aus Wasser und Brot bestanden haben – dazu passte, dass er tatsächlich für mehrere Monate keine andere Speise vertrug. Andererseits hätten sich Mangelerscheinungen bei ihm bemerkbar machen müssen, was nicht der Fall war. Auch blieb offen, warum und wo Kaspar Hauser gefangengehalten worden war. Angeblich hatte ihm ein Unbekannter erst kurz vor der Freilassung flüchtig das Schreiben beigebracht. Auch das Gehen und Stehen will er erst bei dieser Gelegenheit gelernt haben.
Nürnbergs Bürgermeister veröffentlichte wenige Monate später eine Bekanntmachung, die alles enthielt, was er über Kasper Hauser in Erfahrung gebracht hatte. Durch die Veröffentlichung in Tageszeitungen zog der Fall überregionales Interesse auf sich. Doch dann, im Oktober 1828, kam es zu einem Zwischenfall. Angeblich hat ein maskierter Unbekannter Kaspar Hauser eine Stichverletzung zugefügt, und zwar im Haus des Lehrers, bei dem er seit einiger Zeit wohnte. Die Geschichte klingt nicht recht glaubwürdig, und es scheint denkbar, dass sich das angebliche Opfer die stark blutende Wunde auf der Stirn selbst zugefügt hat. Dafür spricht, dass es ein halbes Jahr später zu einem Unfall kommt, bei dem Hauser versehentlich eine Pistole abfeuert. Ob die hieraus resultierende Kopfwunde wirklich von dem Schuss stammt, lässt sich nicht klären.
Einige Jahre bleibt es ruhig. Kaspar Hauser wohnt unterdessen in Ansbach, wo er in den besten Kreisen verkehrt. Doch dann, am 14. Dezember 1833, wird er von einem Unbekannten niedergestochen, der ihm zuvor Auskunft über seine Herkunft versprochen hatte. Am Tatort findet sich ein Beutel mit einer spiegelverkehrt notierten Botschaft, in der sich der Täter als „M.L.Ö.“ ausweist. Die Ärzte sind sich uneinig, ob überhaupt ein Angriff stattgefunden hat. Drei Tage später stirbt Kaspar Hauser und wird unter großer Anteilnahme der Bevölkerung beigesetzt. Die Suche nach dem Attentäter verläuft im Sande.
Ein seltsamer junger Mann mit eingeschränktem Wortschatz, der unter rätselhaften Bedingungen aufwuchs – es ist kein Wunder, dass Kaspar Hauser die Phantasie seiner Zeitgenossen zu beschäftigen begann. Rasch kam die Vermutung auf, es handele sich bei ihm um einen Sohn des Großherzogs von Baden, der kurz nach seiner Geburt gegen einen anderen Säugling ausgetauscht worden sei. Tatsächlich starb der Sohn des Großherzogs am 16. Oktober 1812, also etwa zu dem Zeitpunkt, an dem der unbekannte Tagelöhner die Verantwortung für Kaspar Hauser übernommen haben will. Beweise für den Tausch gibt es freilich keine. Stattdessen deuten mehrere Indizien darauf hin, dass der Findling von Nürnberg ein problematisches Verhältnis zur Wahrheit hatte und vieles aus seinem Leben bloß erfunden hat. Dies gilt auch für die angeblichen Attentate, die er ersann, um schwindendes Interesse an seiner Person auszugleichen. Dass ihn die selbst zugefügte Stichverletzung von 1833 das Leben kosten sollte, war sicher nicht beabsichtigt. Doch wer er wirklich gewesen ist, muss auch weiterhin offen bleiben – und wird Forscher noch lange beschäftigen.